Predigt zum Reformationsfest über Mt 10,26-33
26 Darum fürchtet euch nicht vor ihnen. Denn es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird. 27 Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das verkündigt auf den Dächern. 28 Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet viel mehr den, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle. 29 Verkauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. 30 Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Haupt alle gezählt. 31 Darum fürchtet euch nicht; ihr seid kostbarer als viele Sperlinge. 32 Wer nun mich bekennt vor den Menschen, zu dem will ich mich auch bekennen vor meinem Vater im Himmel. 33 Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem Vater im Himmel.
Liebe Gemeinde!
In acht Wochen wird es uns wieder gesagt: Fürchtet euch nicht, denn ich verkündige euch große Freude! Und der Grund der Freude, die die Furcht vertreibt, wird sein, dass Gott in dem Kind in der Krippe den Menschen ganz nahe kommt, ihren Weg mitgeht. Dass er sich finden lässt mit allem, was mit seinem Kommen verheißen ist – nicht im Himmel, sondern auf der Erde.
Und auch heute heißt es: Fürchtet euch nicht; fürchtet euch nicht vor den Menschen! Und der Grund ist kein anderer. Jesu Weg und der unsere sollen zusammenfinden. Er will uns in den seinen mit hineinziehen. Nur dass wir heute nicht schauen auf die Schönheit der Weihnachtsgeschichte, in vom Kerzenlicht glänzende Augen, sondern auf das, was Nachfolge auch bedeutet: Treffen auf Widerstand, Leiden mit Gott, ungestillte Sehnsucht, Fragen ohne Antwort. Wie anders als zu Weihnachten klingt dieses Fürchtet euch nicht heute.
Viele werden es kennen: Vor der Operation kommt der Arzt zum Aufklärungsgespräch und zählt auf, was alles passieren kann. Komplikationen bis hin zum Verlust eines Organs, ja bis zum Tod. Und dann sagt er: Aber haben sie keine Angst, fürchten sie sich nicht. Wie überzeugend das ankommt, hängt nicht zuletzt von der Person desjenigen ab, der es sagt.
Beim ersten Durchlesen des Bibeltextes bin ich hängengeblieben an einem Wort, von dem ich dachte, es gehöre gar nicht mehr zum Vokabular meines Glaubens: Hölle. Wenn sie sich gefragt haben, was hat denn dieser Text mit dem Reformationsfest zu tun; hier eine erste Antwort. Es ist diese Angst vor Verdammnis und Hölle, die in unserem Bibelabschnitt anklingt, die Menschen am Ausgang des Mittelalters – unter ihnen auch Martin Luther – in die Verzweiflung getrieben hat. Es ist diese Angst, die Luther durch seine Entdeckungen an der Heiligen Schrift gebannt hat. Rückblickend schreibt er: Früher verstand ich die Gerechtigkeit Gottes als eine Eigenschaft, durch die er die Bösen bestraft und die, die Gutes getan haben, belohnt. Aber wer kann sich schon sicher sein, nur Gutes getan zu haben? Diesen Gott konnte ich nicht lieben; ich hasste ihn vielmehr. Doch dann entdeckte ich durch die Barmherzigkeit Gottes, dass seine Gerechtigkeit etwas ist, was Gott durch den Glauben an Christus den Menschen schenkt. Von da an zeigte mir die Heilige Schrift ein ganz anderes Gesicht. Soweit Luther.
Vor zwei Wochen waren wir zum Gottesdienst in der Nürnberger Lorenzkirche; sprachen natürlich auch das Glaubensbekenntnis. Wir alle haben miteinander von klein auf einen Sprechrhythmus eingeübt, der einen Vorbeter überflüssig macht. Man kann sich einfach tragen lassen. Es gibt eine kleine Pause an folgender Stelle: „Von dort wird er kommen – zu richten die Lebenden und die Toten.“ Genau in diese Pause hinein sprach eine Frau hinter uns laut und vernehmlich: „Von dort wird er kommen, aufzurichten die Lebenden und die Toten.“ Eigentlich wollte ich spontan ihr nach dem Gottesdienst meine Zustimmung ausdrücken. Denn so verstehe ich auch den Sinn von Gottes Richten. Das, was verborgen war und geheim (Vers 26), was wir unter den Teppich gekehrt haben, was unbearbeitet geblieben ist, das wird Gott ans Licht bringen, um es aufzurichten und auszurichten im Licht seiner Liebe. Ich habe die Frau aber dann doch nicht angesprochen. Es ist nicht nötig, dass wir den Wortlaut unseres Bekenntnisses verändern, sondern dass wir es immer wieder neu durchdenken und uns aneignen, damit es beim Sprechen aus derselben Ecke unseres Herzens kommt wie etwa der Satz: „Du weißt gar nicht, wie lieb ich dich habe.“
„Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen“, sagt Martin Luther zur Auslegung der Gebote im Kleinen Katechismus. Diese Furcht aber ist nicht die Furcht vor Strafe. Vielmehr zielt sie im Sinne des Alten Testaments auf das Halten der Gebote. Denn Liebe und Furcht schließen sich aus. Der Vater, der sein Kind schlägt, wird niemals Liebe, allerhöchstens Respekt erreichen. Und zynisch, wenn er dann noch vom Kind erwartet, die Schläge als eine Sprache der Liebe zu verstehen. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, sagt der 1. Johannesbrief. Es ist genug, dass wir Gott lieben. Das schließt die Ehrfurcht allemal mit ein. Und es schließt ein, ihn zu suchen und auch mit ihm zu ringen und zu leiden.
Unser Predigtabschnitt ist Teil der Aussendungsrede Jesu an seine Jünger. Er beauftragt sie, in seinem Namen zu reden und zu handeln. Nicht schickt er sie los, damit sie ihr Glück finden, wie es so oft im Märchen schön erzählt wird. Jesus nimmt sie hinein in seinen Weg der liebenden Hingabe, des Widerstands gegen eine Welt voll Gewalt und der Sehnsucht nach Gott, die sich für niemand alleine erfüllt. Alles, wozu er sie sendet, könnte man unter die Überschrift von Vers 32 stellen: Sie sollen sich zu ihm bekennen.
Wir schauen noch einmal hinüber zum großen Reformator. Auf dem Reichstag in Worms 1521 legte man ihm seine Schriften vor und forderte ihn auf, sie zu widerrufen. Luther erbat sich Bedenkzeit bis zum nächsten Tag. Dann hielt er eine wohl vorbereitete Rede und sagte, wenn ich nicht durch das Zeugnis der Heiligen Schrift überzeugt werde, kann ich nicht widerrufen.
Sich zu Jesus bekennen, was könnte das heute heißen? So dramatisch wie bei Luther wird es wohl nicht aussehen. Aber es könnte z.B. bedeuten, einem Pfarrer zu widersprechen, der sich dafür ausspricht, Flüchtlinge im Mittelmeer dem Ertrinken zu überlassen. Es könnte bedeuten, auf der Seite der Leidenden zu stehen und so am Leiden Gottes in der Welt teilzunehmen. Es könnte uns verwickeln in Widerspruch und Widerstand und in Fragen, auf die wir keine Antwort wissen. Wenn Paulus sagt: Ich schäme mich des Evangeliums nicht, dann zeigt das, wie nah das Bekenntnis zu Jesus der Scham ist, denn einer, der sein Kreuz trägt, ist heute nicht weniger anstößig als damals. Und schließlich heißt, sich zu Jesus bekennen, festzuhalten an der Hoffnung, dass Gott für uns einen Weg hat durch alles, was uns je bedrücken und Angst machen könnte.
Woher kommt die Kraft und Freiheit zu solchem Bekennen? Um das zu verdeutlichen unterscheidet Martin Luther in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ zwischen Leib und Seele. Und er kann sich damit ja auch auf unseren Bibelabschnitt berufen. Wir tun uns mit dieser Unterscheidung heute nicht so leicht, ist es doch überall geboten, ganzheitlich zu denken; Leib und Seele nicht auseinanderzureißen. Aber gerade in ihrem Zusammensein sind sie ja doch unterschieden. Wir haben am Anfang des Gottesdienstes mit Psalm 42 gebetet: Was betrübst du dich, meine Seele? Das können wir unmittelbar mitsprechen und wissen, was gemeint ist. Oder ein Satz wie dieser: Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft. (Ps 62). Das kann man sich immer wieder sagen, wenn man etwa nachts mit unruhigen Gedanken wach liegt. Das berührt in der Tiefe. Da braucht man nicht weiter zu fragen, was es mit der Seele auf sich hat…
Luther unterscheidet zwischen Leib und Seele, um herauszustellen, worin unsere Freiheit besteht. Es ist also keine anatomische, sondern eine theologische Unterscheidung. Mit dem Leib sind wir der Welt verhaftet durch das, was wir tun und erleiden. Dem Leib sind also die Werke zugeordnet. Die Seele aber hört auf das Wort Christi. Wo sie ihm glaubt, erfährt sie Gottes bedingungslose Liebe und erfährt den Zuspruch von Gottes Gerechtigkeit: Du bist mir recht! Darin ist unsere christliche Freiheit begründet, die durch unsere Taten – es seien gute oder schlechte – nicht zu erschüttern ist.
Sind das nur schöne Worte? Was sagt dazu unsere Selbsterfahrung? Wir erleben es doch immer wieder, wie schnell es uns die Laune verdirbt, wenn es irgendwo drückt und zwickt. Oder wie es uns auf der Seele liegt, wenn wir etwa jemandem Unrecht getan haben. Und dann sagt Luther auch noch: Lass fahren dahin, als ob das mit dem Leib ganz egal wäre (EG 362, 4). Wir können das vielleicht in unserem Land relativ gelassen singen, wo wir uns als christliche Kirche ganz komfortabel eingerichtet haben. Aber was ist etwa mit Christen und Christinnen in Nigeria oder mit jüdischen Gemeinden mitten in Deutschland, die ihre Gottesdienste aus Angst vor Terror hinter verschlossenen Türen feiern müssen? Und trotzdem kommen sie zusammen, singen, beten, tanzen und feiern, weil sie wissen, dass sie in Gott einen unverlierbaren Halt haben. Wenn Gott schon so auf die Spatzen achtet, wieviel mehr auf uns, deren Haare sogar gezählt sind?
Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein, hat Reinhard Mey gesungen. Nein, würde Luther sagen, nicht über den Wolken, sondern dort, wo Menschen sich so von Gott gehalten wissen. Diese Freiheit ist auch die Freiheit von der Angst. Es ist die Freiheit – nicht der Zwang! -, auch großes Leid als eine Herausforderung anzusehen, nur noch tiefer in Gottes Liebe hineinzufinden.
Fürchtet euch nicht, sagt Jesus – um uns dann doch zu erschrecken? Es ist Jesus, der das sagt. Und er sagt es mit der Autorität dessen, der unsere Furcht und Ängste geteilt hat; der uns heute hineinnehmen will in seinen Weg. Er wirbt nicht mit verlockenden Worten. Doch wer sich auf seinen Weg einlässt, sich zu ihm bekennt, zu dem wird er sich auch bekennen. Der wird erfahren, dass Jesus Christus der Grund ist, den niemand anders legen kann, wie es im Spruch für den Reformationstag heißt (1Kor 3,11); der Grund unserer Hoffnung, der Grund, weshalb wir uns nicht fürchten müssen, denn Gottes Liebe wird uns tragen. Amen.
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