Predigt vom 23. Juni 2024

4. Sonntag nach Trinitatis (23.06.2024, 10.00 Uhr)

Pfarrerin Ulla Knauer

Predigt zu 1. Samuel 24,1-20

 

Gnade sei mit Euch und Frieden von Gott unserem Vater, und unserem HERRN Jesus Christus und in der Kraft des Heiligen Geistes. Amen.

Hinführung (Astrid Lindgren)

Ich bin überzeugt und wette, dass jeder und jede von Ihnen den Namen Astrid Lindgren kennt? – Auch wenn sie schon längst tot ist. Straßen, Schulen, Freizeitparks sind nach ihr benannt. Ihre Bücher heute noch in fast jedem Buchladen ohne Bestellung zu haben. Ihre Figuren überleben die Zeit. Eine Pippi Langstrumpf, das stärkste Kind der Welt. Ein 5-jähriger Michel, der allein im Winter die Kutsche anspannt und den verletzten Knecht rettet. Eine Ronja, die ohne Hilfe in der Wildnis überlebt. Karl Löwenherz, ein ans Bett gefesseltes krankes Kind, das in einer neuen Welt auf Pferden reitet und Drachen besiegt.

Man sollte meinen, diese Frau muss frei und sorglos gewesen sein, um solche Fantasie zu haben. Doch wer ihre Biographie kennt, weiß das Gegenteil war der Fall. Sie wusste, was Kälte war. Sie wusste, was harte Arbeit auf dem Hof war. Sie wusste, was es hieß ausgestoßen zu sein, unverheiratet schwanger. Sie wusste, was es hieß das Neugeborene abzugeben. Und sie wusste, was es hieß, unter den Blicken der Gesellschaft für ihr Kind zu kämpfen. Ihre Fantasie ließ sie überleben. Ließ sie nicht
verzweifeln. Ließ sie sagen: Ich weiß, dass alles anders sein kann und wird. 

Astrid hatte ihre Fantasie, die ihre Ohnmacht und Verzweiflung in die Macht und Fähigkeit verwandelte, ihr Leben zu gestalten. Auch in der Bibel hören wir einen, der erlebte Zeiten der Macht und Zeiten der Ohnmacht. 

David

Heute allzu oft verklärt vom glorreichen Bild: Der Hirtenjunge. Der Kleine, der gegen den großen Goliath gewinnt. Der Dichter und Musiker. Der König. 

Er war genauso Mensch, Sünder, Räuber, Ehebrecher, Auftraggeber eines Mordes. Am Ende durfte er nicht den Tempel bauen, sondern Gott beließ es bei den Vorbereitungen.

Bei unserem Predigttext ist David in der Situation, dass er sich seit längerem auf der Flucht befindet. Am Hof kann er nicht mehr sein. König Saul ist eifersüchtig. Manchmal wahnsinnig und bedroht David mit dem Leben. David, inzwischen Sauls Schwiegersohn und Thronnachfolger, muss fliehen. Er hält sich im Grenzland auf. Die weiten, kahlen Hügel und Berge. Was tut einer, der obdachlos wird? Betteln oder Abrutschen in die Kriminalität? David wird Zweiteres. Seine kriegerische Begabung und Ausbildung spricht sich herum, und Söldner scharen sich um ihn. In der Spitze folgen ihm laut Bibel 300 – 600 Männer. Jeder will was zu essen haben und einen Schlafplatz. Jeden Tag. Sie hausen in weitläufigen Höhlen, um nicht entdeckt zu werden. Weit hinten, trotz Kälte, ihr Lager.
In den Gängen Wachposten, die sich schnell, leise und unbemerkt Zeichen geben können, sollte sich in der Umgebung jemand nähern. Manch biblische Auslegung vergleicht David mit einer Art Mafiaboss.

In so einer Höhle findet der Predigttext statt. Heute ist ein recht langer Text für uns ausgewählt. Ich habe mir erlaubt an wenigen Stellen vom Lutherdeutsch abzuweichen, damit Sie die Handlung auf Anhieb verstehen. Das Original finden Sie im Gottesdienstblatt. Tauchen wir ein in eine Szene aus dem Leben Davids.

Predigttext

Ich lese aus dem 1. Samuelbuch im 24. Kapitel:
Und David zog von dort hinauf und blieb in den unzugänglichen Bergen bei En-Gedi. 2 Als nun Saul zurückkam von der Verfolgung der Philister, wurde ihm gesagt: Siehe, David ist in der Wüste En-Gedi. 3 Und Saul nahm dreitausend auserlesene Männer aus ganz Israel und zog hin, David samt seinen Männern zu suchen bei den Steinbockfelsen. 4 Und als er auf dem Weg an den Höhlen vorbeikam, die nachts als Schafpferch genutzt wurden, war dort Eine Höhle, in die Saul hineinging, um seine Notdurft zu verrichten.

David aber und seine Männer saßen hinten in dieser weitläufigen Höhle. 5 Da sprachen die Männer Davids zu ihm: Siehe, heute, das ist der Tag, von dem der HERR zu dir gesagt hat: Siehe, ich will deinen Feind in deine Hand geben, dass du mit ihm tust, was dir gefällt. Und David stand auf und schnitt leise einen Zipfel vom Rock Sauls. 6 Aber danach schlug ihm sein Herz, dass er den Zipfel vom Rock Sauls abgeschnitten hatte, 7 und er sprach zu seinen Männern: Das lasse Gott - der HERR ferne von mir sein, dass ich das tun sollte und meine Hand legen an meinen König, den Gesalbten des HERRN; denn er ist der Gesalbte des HERRN. 8 Und David wies seine Männer mit diesen Worten
von sich und ließ sie sich nicht an Saul vergreifen.

Als aber Saul sich aufmachte aus der Höhle und seines Weges ging, 9 machte sich danach auch David auf und ging aus der Höhle und rief Saul nach und sprach: Mein Herr und König! Saul sah sich um. Und David neigte sein Antlitz zur Erde und fiel nieder. 10 Und David sprach zu Saul: Warum hörst du auf das Reden der Menschen, die da sagen: David sucht dein Unglück? 11 Siehe, heute haben deine Augen gesehen, dass dich der HERR heute in meine Hand gegeben hat in der Höhle, und man hat mir gesagt, dass ich dich töten sollte. Aber ich habe dich verschont; denn ich dachte: Ich will meine Hand nicht an meinen König legen; denn er ist der Gesalbte Gottes- des HERRN. 12 Mein Vater, sieh doch hier den Zipfel deines Rocks in meiner Hand! Dass ich den Zipfel von deinem Rock schnitt und dich nicht tötete, daran erkenne und sieh, dass nichts Böses in meiner Hand ist und kein Vergehen. Ich habe mich nicht an dir versündigt; aber du jagst mir nach, um mir das Leben zu nehmen.

13 Der HERR wird Richter sein zwischen mir und dir und mich an dir rächen, aber meine Hand soll nicht gegen dich sein; 14 wie man sagt nach dem alten Sprichwort: Von Frevlern kommt Frevel; aber meine Hand soll nicht gegen dich sein. 

15 Wem zieht der König von Israel nach? Wem jagst du nach? Einem toten Hund, einem einzelnen Floh!
16 Der HERR sei Richter und richte zwischen mir und dir und sehe darein und führe meine Sache, dass er mir Recht schaffe und mich rette aus deiner Hand!

17 Als nun David diese Worte zu Saul geredet hatte, sprach Saul: Ist das nicht deine Stimme, mein Sohn David? Und Saul erhob seine Stimme und weinte 18 und sprach zu David: Du bist gerechter als ich, du hast mir Gutes erwiesen; ich aber habe dir Böses erwiesen. 19 Und du hast mir heute gezeigt, wie du Gutes an mir getan hast, als mich der HERR in deine Hand gegeben hatte und du mich doch nicht getötet hast.


20 Wo ist jemand, der seinen Feind findet und lässt ihn im Guten seinen Weg gehen? Der HERR vergelte dir Gutes für das, was du heute an mir getan hast! 

Die Grenze – Der Maßstab Gottes


Soweit der Predigttext. David sagt:
Der HERR wird Richter sein zwischen mir und dir und mich an dir rächen, aber meine Hand soll nicht gegen dich sein

Warum kann er auf diesen Moment der Rache verzichten? Ich denke: Nur weil Gott real ist. Weil es für David keinen Zweifel gibt, dass Gott lebt. Dass Gott Saul einst gesalbt hat. Dass Gott auch morgen noch regiert. Nur deshalb verzichtet er auf Rache.

David hat alles verloren. Seine Heimat. Seine Familie. Seinen Status als Feldherr, Künstler, oder im Königshof. Teilweise vielleicht auch seinen Anstand, oder eine geordnete Arbeit. Unter Fremden, unter Menschen anderen Glaubens, unter den Feinden Israels muss er sich verstecken und hält sich mit mehr oder weniger kriminellen Tricks über Wasser.

Und jetzt ist der Verursacher vor ihm. Schutzlos. Ein Moment, wo auch ein König allein sein will. Er geht in eine Höhle, um aufs Klo zu gehen. Allein. Die 3000 Schutzmänner in der Ferne. Ausgeliefert in die Hand Davids. Und dessen Männer, die gut was mit einer königlichen Geisel hätten anfangen können.

Dem Feind im Angesicht

Wir springen ins Jahr 2024: Vielleicht haben sie das Entsetzen in Italien über die Presse mitbekommen. Ein indischer Erntehelfer gerät in die Maschine. Der Landwirt lässt ihn verbluten und sterben, weil er den Arbeiter illegal beschäftigt. Was geht wohl in seinen indischen Angehörigen vor?

Oder welche Ohnmacht geht in Ärzten und Krankenschwestern in den Krisengebieten dieser Welt vor, die in kaputten Krankenhäusern mit viel zu wenig Medikamenten, nur noch bedingt helfen können und zu oft ihre Patienten sterben sehen? 

Ohnmacht gegenüber dem Feind und die Sehnsucht nach Ausgleich, oder auch Rache. – ist menschlich. Ist am Ende die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nach Frieden.

Aber hier beginnt es spannend zu werden. Ist der innere Frieden für mich, auch der Frieden für alle? Würde es David befrieden, sich zu rächen? Wahrscheinlich ja. Aber hätte es dem Volk Frieden gebracht, wenn ihr König ermordet wird? Nein. Vor allem nicht, wenn es der erste König war, den sie sich so lange gewünscht hatten. Und Gott hat es ihnen dann endlich gestattet. 

David erkennt eine Macht und eine Grenze, die er respektiert. Auch wenn es ihm erstmal nicht besser geht. Die Grenze ist Gottes Wille. Gottes Entscheidung. Gott hat entschieden: Saul ist König. Dann soll Gott entscheiden, wann Saul stirbt. Nicht David. 

David verzichtet. Das ist keine Versöhnung, aber lebenserhaltend.

Zu viel verlangt?

Was macht David? Er hat Respekt. Respekt vor Gott. Und Respekt auch vor seinem Feind. Wir würden das heute „Würde“ nennen. Er verleiht Saul Würde. Menschenwürde. Das Volk Gottes. Die Heilsgeschichte ist wichtiger, als sein persönliches Leiden. Der Gesalbte bleibt unantastbar.

„Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen!“ Vielleicht eins der schwierigsten Gebote Jesu im Matthäusevangelium. Wie soll das gelingen? Angesichts der unfassbar grausamen Taten, zu denen Menschen auf diesem Planeten fähig sind?

Es kann nur gelingen, wenn nicht ich richten muss, sondern ich den Richtspruch an Gott abgebe. Und davon ausgehe, er wird richten. Er wird eingreifen. Anders als ich es erwarte oder denke. Aber er wird.

Theorie und Praxis

Schöne Theorie! Aber gelingt das wirklich? Trotz Ohnmacht und Verzweiflung, auf den scheinbar gerechten Ausgleich zu verzichten?

Wir feiern dieses Jahr in Deutschland 75 Jahre Grundgesetz. Und in dieses Gesetz wurde geschrieben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Aus diesem Grundsatz sind Rechte und Gesetze erwachsen, wie dass jeder – wirklich jeder - Anspruch auf Rechtsbeistand hat. Und vieles mehr. 

Aber das eine ist die Würde auf dem Papier, das andere ist die erlebte Würde. Die Würde für den Feind. Genauso aber die eigene Würde. Die Würde des Ohnmächtigen und Verzweifelten. Wie empfindet sich jemand als wertvoll, ohne Recht bekommen zu müssen?

Drei Annäherungen zu guter Letzt:

  1. Wir reisen ca 500 Jahre in die Vergangenheit, aber nicht zu Luther, sondern zu Calvin. Überzeugter Vertreter des neuen Glaubens. Flüchtling. Mehrfach. Später, als er in Genf wohnen durfte, kamen wieder Flüchtlinge aus Frankreich an. Sie wurden bei ihm nicht ausgegrenzt. Es heißt, er sprach sie mit „Auserwählte“ an. Wie verwundert mussten sie sein? Nach wochenlanger Wanderung, mit verdreckter Kleidung, Hunger und Durst, und keiner Ahnung, was die Zukunft bringt. Du bist auserwählt. Du kannst dich einbringen. Calvin sorgte für Unterbringungs- und Arbeitsmöglichkeiten und war überzeugt, jeder Zugezogene kann etwas für die Stadt beitragen. Der wirtschaftliche Erfolg der Stadt sollte ihm Recht geben.
  2. Es gibt eine Buchverfilmung aus den 90er Jahren. Gottes Werk und Teufels Beitrag. Nicht ganz leichte Kost. Ein Waisenhaus in den USA, 40er Jahre, und ein leitender Arzt, mit gut gemeinten, aber illegalen Methoden. 
    Diese Kinder, sie warten. Sie warten, dass sie eines Tages gesehen werden. Einen Namen bekommen. Und in eine Familie dürfen. Manche werden nie gesehen. Aber Dr. Larch, der Arzt, will ihnen trotzdem das Gefühl geben: Ihr seid gesehen. Und er sagt jeden Abend in den Schlafsaal: Gute Nacht, ihr Prinzen von Maine, ihr Könige von Neuengland.
    Diese Kinder sind ihrem Schicksal ausgeliefert, haben keinerlei Besitz, keine Macht. Aber er gibt ihnen das Gefühl. Für einen Moment. Ihr seid wer. Ihr seid Könige. Und wenn es nur der Moment ist, wenn er es abends ausspricht.
  3. Und dabei wären wir beim letzten Punkt. Drittens. Aussprechen. Nicht Rache nehmen. Nicht Gewalt anwenden. Aussprechen. Genau das macht David in unserem Predigttext. Den meisten Raum nimmt nicht die Handlung, sondern seine Rede ein. Der Leser erfährt nicht, wie David es angestellt hat, von Saul unentdeckt zu bleiben, und sich anzuschleichen. Aber seine Rede tritt in den Vordergrund. Sein Respekt vor Gott und dessen gesalbten König. Es ist kein Gebet. Aber es hat für mich etwas davon. David spricht aus, was passiert ist. Was er fühlt und worauf er verzichtet. Er bekennt sich zu Gott. Und er weiß, Gott sieht zu. Gott hört zu. Er vertraut: Gott wird lenken. Eines Tages.

Wie ein Gebet. In der Vorbereitung fragte ich unsere Gebetsgruppe hier in der Gemeinde, was ihnen gut täte an der Gebetsgruppe mittwochs, angesichts der vielen Fürbitten, die wir haben, und der Probleme und Gewalt hier auf Erden, die doch nicht aufhört. Zitate aus der Gruppe sollen Schlusswort sein und uns heute mitgegeben werden:

„Ich bin überzeugt, dass Gott uns zum Gebet einlädt. Es ist ein Gespräch mit ihm“
„Die Gewissheit, dass unser Gebet nicht ungehört bleibt, gibt uns Woche für Woche Kraft.“
„Die Kraft wird in der Gemeinschaft verstärkt“
„Das Gebet gibt uns die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen. – aber auch den Mut, zu ändern, was wir ändern können.“

Vertrauen wandelt die Ohnmacht:

Astrid Lindgren konnte die Gesellschaft nicht ändern. Aber sie konnte die Ohnmacht in eine Kunst verwandeln, die Millionen Kinder bis heute tröstet.

David konnte König Saul nicht ändern, aber er konnte sein Schicksal in Vertrauen wandeln.

Auch wir können Schicksalsschläge nicht verhindern oder Katastrophen, aber wir können am Leben festhalten. Gott schuf das Leben mit seinem Wort. Gebet ist Wort. Ist Lebens-erhaltend. Ist Zukunft.

Wir sind nicht ohnmächtig. Wir beten. Und wir sollten diese Macht nie unterschätzen. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unser Vernunft, bewahre eure Herzen Und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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