Predigt am 11. Oktober 2020 über 5. Mose 30,11-14
Liebe Gemeinde!
40 Jahre Wanderung durch die Wüste gehen zu Ende. Mose und das Volk Israel stehen kurz vor dem verheißenen und gelobten Land. Nur der Jordan, mehr ein Bach denn ein Fluss, trennt sie noch vom Ziel. Doch unsere Sprache zeigt es an, „über den Jordan gehen“, das ist der Schritt in völlig unbekannte Zukunft; der schwerste Schritt. Dazu braucht es vor allem eins: Vertrauen.
Vor vielen Jahren standen sie schon einmal an ebendieser Stelle, das Land zum Greifen nah. Man konnte es sehen; man konnte es riechen, denn fruchtbare Erde ist etwas anderes als der Sand der Wüste. Damals sandte Mose Josua und Kaleb als Kundschafter in das Land jenseits des Jordans. Sie durchquerten es 40 Tage und kamen zurück mit wunderbaren Früchten, die belegten, dass es wirklich gutes Land war. Sie brachten aber auch Nachrichten mit von befestigten Städten und Menschen, die ihnen stark und groß wie Riesen erschienen. Da verzagten die Israeliten und murrten: Wir werden dies Land nicht einnehmen können. Man wird uns vertreiben; vielleicht sogar erschlagen. Wären wir doch in Ägypten geblieben.
Da erzürnte Gott: Das ist jetzt das zehnte mal, dass dieses Volk mir nicht vertraut und gegen mich aufbegehrt. Außer Josua und Kaleb wird keiner von denen, die heute hier stehen, dieses Land betreten; auch du, Mose, wirst es nur aus der Ferne sehen. Und so mussten sie weiter durch die Wüste ziehen; insgesamt 40 Jahre, bis eine ganze Generation gestorben war. Insgesamt 40 Jahre.
40 Jahre – 40 Tage; das Maß ist verschieden, die Zahl bleibt gleich. Im Italienischen heißen 40 Tage quarantina di giorni. Daher kommt unser Wort Quarantäne, das uns derzeit so oft um die Ohren fliegt. Für Israel war es eine besondere Quarantäne, deren Sinn darin lag, Vertrauen zu lernen.
Nun stehen sie wieder hier an der Schwelle zum versprochenen Land. Jetzt kommt es darauf an, nicht noch einmal zu zaudern. Mose will nichts unversucht lassen. Er redet dem Volk ins Gewissen. Das ganze 5. Mosebuch ist konzipiert als eine Rede, die Mose an seinem letzten Lebenstag hält. Er mahnt das Volk zu Vertrauen und Gehorsam gegenüber Gott. Er fasst noch einmal die Gebote und Gesetze Gottes zusammen – 15 Kapitel in unserer Bibel. Er erinnert an Gottes Bund am Sinai, wo er 40 Tage auf dem Berg blieb und Gott ihm die Tafeln mit den Geboten übergeben hatte. Und er sagt: Nicht mit euren Vätern, mit euch hat Gott den Bund geschlossen. Die Zeiten schieben sich ineinander; die Herausforderung bleibt: Vertrauen auf Gott, den Bund halten. Und Mose erinnert an das zentrale Bekenntnis Israels: Höre, Israel, der Herr ist unser Gott. Der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Das Vertrauen in Gott, die Liebe zu ihm, ist nichts anderes als das Halten seiner Gebote.
Wie sehen wir auf die Gebote? Die Vielfalt und die Menge scheinen erdrückend. Und nicht zuletzt durch die Polemik im Neuen Testament gegen Pharisäer und Schriftgelehrten scheint es uns oft eine riesige Last zu sein, die auf den Menschen liegt, und von der uns Jesus Gott sei Dank befreit hat. Was sind Gottes Gebote und Gesetze, die Weisungen (wie man das Wort „Thora“ gut übersetzen kann)? Sind sie Gottes Lebensregeln für das Land der Freiheit jenseits des Jordan? Oder sind sie Bürde und Last? Mose, der gerade nochmal alles eingeschärft hat, setzt Erstaunliches solchen Zweifeln entgegen: Das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern.
Da fällt zunächst der Singular auf: das Gebot. Es ist aber kein bestimmtes gemeint. Sondern die ganze Thora ist wie ein Gebot. Die ganze Thora hängt an der Liebe zu Gott. Du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen. Wer diese Liebe im Herz hat, für den ist die Thora keine Last, sondern wie ein einziges Gebot; nicht schwer und unverständlich. Es ist nah und leicht.
Es ist nicht im Himmel, so dass du etwa übersinnliche Fähigkeiten bräuchtest, um es zu verstehen. Es ist auch nicht jenseits des Meeres, so dass du dich aufs äußerste anstrengen müsstest, um es zu begreifen. Es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Mund. Denn wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Es ist in deinem Mund, damit es zu Gehör gebracht wird. Es ist in deinem Mund, wo es nach jüdischem Brauch laut murmelnd vertieft wird und manchmal auch schwer zu kauen ist, wie die Hostie, die am Gaumen kleben bleibt. Doch wer über Gottes Gesetz nachsinnt Tag und Nacht, der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen (Ps 1). Was für eine Verheißung für Menschen, die 40 Jahre nur in der Wüste waren…
Das Gebot ist in deinem Herzen, weil Gott dieses Herz in seine Hände nehmen wird. Nach biblischem Verständnis ist das Herz nicht nur Sitz unserer Gefühle, sondern bestimmt die Grundausrichtung des Menschen, sein Denken, Planen, Tun. Das Gebot ist in deinem Herzen, dass du es tust. Vielmehr noch: Wenn es in deinem Mund und Herz ist, dann wird es auch zur Tat. Die Liebe zu Gott ist die Liebe zum Nächsten.
Das Gebot ist nicht im Himmel und nicht jenseits des Meeres; es ist in Israels Hände gelegt. Und dort muss es hin und her gewendet werden. Es muss diskutiert werden, wie es genau zu verstehen ist. Das ist gute jüdische Tradition. In ihr steht selbstverständlich auch Jesus. Ich denke, das Bild von ihm, das ihn in fundamentaler Opposition zu Schriftgelehrten und Pharisäern zeichnet, muss korrigiert werden. Viel schwerer wiegt, was ihn mit diesen verbindet, nämlich die Liebe zu Gottes Gesetz. Ich bin nicht gekommen, das Gesetz und die Propheten aufzulösen. Nicht der kleinste Buchstabe vom Gesetz wird vergehen. Das sagt Jesus (Mt 5,17f). Immer wieder finden wir ihn in gelehrten Diskussionen über das Gesetz. Einmal wird er gefragt, welches das höchste Gebot sei. Und er antwortet: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt und deinen Nächsten wie dich selbst. In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten (Mt 22,37-40).
So hätte es auch Mose sagen können. Denn er macht dieses Doppelgebot der Liebe zum Kriterium dafür, ob Israel bleibend in dem verheißenen Land leben wird.
Aber vorerst stehen sie noch an der Schwelle, und wir schauen mit ihnen hinüber in das Land der Zukunft. Wird es eine ungewisse Zukunft sein? Schauen wir ängstlich oder mutig nach vorne? In einer immer schwerer zu verstehenden Welt wird es auch immer schwerer, die richtigen Schritte zu wissen. Zukunftsprognosen, etwa zum Klimawandel, sind überwiegend düster. Aus Pessimismus wird schnell Resignation; aus Resignation Verantwortungslosigkeit, die etwa spricht: Das betrifft mich zum Glück nicht mehr…
Aber Gott hat uns nicht die Verantwortungslosigkeit aufgegeben, sondern die Liebe. Und die Liebe zu Gott ist keine andere als die Liebe zu seinen Geschöpfen. Diese ist Kriterium für jene. Die Thora will getan sein.
Der Herr, dein Gott, wird dein Herz beschneiden, sagt Mose kurz vor unserer Bibelstelle. Er wird es in seine Hand nehmen, damit seine Liebe das Herz bestimmt.
Am Ende des Tages steigt Mose auf einen Berg, um noch einmal hinüber zu schauen in das verheißene Land. Er darf es nur sehen. Aber unsere Zukunft werden Gottes Verheißungen sein. Sie liegen vor uns. Zaudern wir nicht. Das Gebot ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. Es ist in deinem Mund und in deinem Herzen. Das jetzt Gebotene ist dieses Gebot. Es ist die Liebe. Amen
Pfarrer Cyriakus Alpermann
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