Predigt vom 25. Oktober 2020

Sonntag, 25. Oktober 2020 - 9.30 Uhr - Johanneskirche Alterlangen

20. Sonntag nach Trinitatis - Proprium des Reformationstags (31. Oktober)

mit Liedpredigt zu "Ein feste Burg ist unser Gott" (EG 362)

2. Mit unsrer Macht ist nichts getan, / wir sind gar bald verloren; / es streit' für uns der rechte Mann, / den Gott hat selbst erkoren. / Fragst du, wer der ist? / Er heißt Jesus Christ, / der Herr Zebaoth, / und ist kein andrer Gott, / das Feld muss er behalten.

3. Und wenn die Welt voll Teufel wär / und wollt uns gar verschlingen, / so fürchten wir uns nicht so sehr, / es soll uns doch gelingen. / Der Fürst dieser Welt, / wie sau'r er sich stellt, / tut er uns doch nicht; / das macht, er ist gericht': / ein Wörtlein kann ihn fällen.

4. Das Wort sie sollen lassen stahn / und kein' Dank dazu haben; / er ist bei uns wohl auf dem Plan / mit seinem Geist und Gaben. / Nehmen sie den Leib, / Gut, Ehr, Kind und Weib: / lass fahren dahin, / sie haben's kein' Gewinn, / das Reich muss uns doch bleiben.

Liebe Gemeinde!

I.

Singen, wenn's schwierig wird im Leben - geht das? Oder verschlägt es einem dann nicht nur die Sprache, sondern auch die Stimme?

Singen, wenn es schwierig wird. In der Apostelgeschichte des Lukas heißt es, dass Paulus und Silas, als sie im Gefängnis waren, gebetet und Gott gelobt hätten, das letztere ist kaum anders als mit Singen zu denken - und sie haben Ketten und Mauern damit gesprengt.

Zur Zeit ist es auch wieder schwierig in unserem Leben und eigentlich auch überall in der Welt - und singen dürfen wir immerhin wieder, mit Abstand und zum Teil mit Mund-Nase-Bedeckung.

"Systemrelevant" - vielleicht wird es das Wort oder Unwort des Jahres? Ist Singen systemrelevant? Ist Lob Gottes systemrelevant? Ist Glauben, ist Gottesdienst systemrelevant?

Unsere beiden regelmäßigen Gottesdienste jeden Sonntag seit Corona-Zeiten zeigen, Gott sei Dank: Gottesdienst ist systemrelevant. Und Gemeinde eben auch.

Ja, Singen und Musizieren ist systemrelevant. Martin Luther selbst hat gesagt, Musik sei "aller Regungen des menschlichen Herzens ein Regiererin”. So hoch dachte er von der Musik und wusste, was Musikpsychologen und –neurologen heute genauer belegen können.

Musik, Singen bringt in Bewegung und bewahrt vor Erstarrung und Lähmung. So ist es gut und unverzichtbar, dass jetzt durch die Corona-Hilfsprogramme auch die Künstler endlich stärker berücksichtigt werden.

Singen, Musizieren, das ist ein probates Mittel gegen die Angst. Ganz simpel: Nicht ohne Grund pfeifen oder singen Kinder, wenn sie in den dunklen Keller müssen.

Ich kenne eine ganze Reihe von Menschen, auch solche, von denen ich es nicht erwartet hätte, die durch unsere derzeitige Situation geängstigt sind und an den Rand von Depressionen gerückt sind. Singen, und sei es ein leiseres Summen, Musizieren, das hilft - weil Klänge, wenn sie gut sind, heilsam sind; da legen sich gute Schwingungen über unsere Seele, die uns stärker machen. Vor einer Woche haben wir hier zweimal am Sonntag die beiden jungen Künstler an den Blockflöten erleben können - alte und neue, auch experimentelle Musik - heilsam für die Seele, begeisternd, auch, wenn man sich Begeisterung zurückhaltender vornehmen musste. Auch das hat viele entängstigt und ermutigt. Und wenn wir hier im Gottesdienst singen oder mindestens summen, dann ist es doch auch so.

II.

"Ein feste Burg ist unser Gott" - ein Lied Luthers haben wir uns heute vorgenommen - In unserem Gottesdienstkalender gehört es nicht zum Reformationstag, sondern zum ersten Sonntag in der Passionszeit - und das Evangelium an diesem Sonntag Invokavit ist die Versuchung Jesu. "Trost und Refugium" - so lautet die Überschrift im berühmten Bapst'schen Gesangbuch von 1545 zu diesem Lied. "Trost und Refugium" - "Trost und Rückzugsgebiet", "Trost und sicherer Ort" könnte man sagen.

Und es steht zu Recht dort, wo auch von Jesus erzählt wird, dass er in Anfechtung geriet, in Versuchung geführt wurde. Und Anfechtung, Versuchung ist ja mehr als das, was viele landläufig denken: es ist mehr als nicht mehr an Gott zu glauben oder Zweifel haben, dass und ob es ihn gibt, oder ob er für dieses oder jenes verantwortlich sei oder nicht. Anfechtung, in Versuchung geführt sein ist mehr: In Gott sein, in Gott ruhen, aber dennoch nichts von ihm spüren, ihn zum Greifen nahe fühlen und doch seine absolute Ferne aushalten müssen. Hier im Gottesdienst der Gemeinde sitzen, der "im Namen Gottes..." geschieht, und doch im Glauben und am Gottesdienst zweifeln oder gar verzweifeln. Den verborgenen Gott (deus absconditus), wie es Luther auch gesagt hat, aushalten und ertragen müssen. Sich losmachen wollen und doch nicht los kommen. Spüren, dass die eigenen Bilder von Gott nicht mehr tragen, und doch keine neuen finden können.

In seinem ersten Kirchen-Lied "Nun freut euch, lieben Christen g'mein" drückt es Luther so aus: "Die Angst mich zu verzweifeln trieb, dass nichts denn sterben bei mir blieb." "Ich fiel auch immer tiefer drein" - Aber eben auch: "Da jammert Gott in Ewigkeit mein Elend übermaßen" - Wer in seinem Glauben, und auch wer in seinem Leben spürt, dass er auf dem Weg nach unten ist, oder dass er schon unten ist - der höre das: Ja, da unten, da jammert es Gott in Ewigkeit, den absconditus, den verborgenen Gott jammert meine Lage, sie berührt ihn im Innersten.

III

Luther begann zu dichten und Lieder zu schreiben erst spät, ausgelöst durch das traumatische Erlebnis, dass zwei seiner Ordensbrüder in Brüssel verbrannt wurden. Das hat seine Zunge gelöst und seine hohe musikalische Bildung in den Dienst des Singens gestellt. Wut, Verzweiflung, Anfechtung haben sich ein Ventil geschaffen und gleichzeitig einen heilenden und heilsamen Weg gefunden.

"Ein feste Burg ist unser Gott" - ein paar Gedanken zu diesem besonderen Lied.

Das Corona-Virus ist weltweit unterwegs - "Ein feste Burg", das Lied, ist auch weltweit unterwegs.

Es wird in Norwegen genauso gesungen wie in Lappland, in Südamerika genauso wie in Afrika, in Korea genauso wie in China. “Ein feste Burg ist unser Gott”. Bei uns ist es durchaus eine ambivalente Wirkungsgeschichte. Man hat das Lied die Nationalhymne der Lutheraner genannt, oder – so Friedrich Engels und Heinrich Heine – die “Marseilleise der Reformation”. Wobei Heine das Lied - durchaus mit Recht - unter die "Freiheits-Lieder" subsumiert hat. In England hat man vom “Schlachtgesang der Reformation” gesprochen. Im 1. Weltkrieg und beim Lutherjubiläum 1917 war es Schlachtgesang auch eines deutschen Nationalismus, verstärkt dann im Dritten Reich – wobei es damals sowohl die Deutsche Christen gesungen haben als auch die andere Seite, die Bekennende Kirche. Und doch ist es immer ein Lied geblieben, das Mut und Vertrauen bewirken konnte und kann.

Joachim Gauck wählte bei seiner Verabschiedung als Bundespräsident diesen Choral als eines der drei Musikstücke, die gespielt wurden. Und er sagte dazu, dass er in der DDR als kleiner Junge erlebt habe, wie eine ganze Gesellschaft in der Angst lebte. "Und dann lernte ich in der Christenlehre: 'Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen – das war stark", sagte Gauck. Das habe ihm Selbstvertrauen gegeben.

Und vor einiger Zeit wünschte sich jemand hier zur Beerdigung seines Bruders ganz unvermittelt “Ein feste Burg” als Lied - "das hat mir immer geholfen.” Mehr sagte er nicht, und er schien auch kein anderes Lied zu kennen. “Das hat mir immer geholfen.”

Vor einer Woche hat es sich ein Jubelpaar zur Goldenen Hochzeit hier in der Kirche zu singen gewünscht - freilich nur die ersten drei Strophen.

IV.

Ehemals hat man das Lied mit dem berühmten Auftritt Luthers in Worms vor dem Reichstag verbunden – 1521 sagte er: “Und wenn in Worms so viele Teufel wie Ziegel auf den Dächern wären, so wollte ich doch hineingehen!“. Und kurz danach wurde er auf die Wartburg entführt, wo er in Sicherheit war und incognito 10 Monate das Neue Testament ins Deutsche übersetzte – die Wartburg sicher Urbild für die “feste Burg”, den sicheren Ort.

Wahrscheinlich ist das Lied erst 1527/28 entstanden. Da muss Luther viel auf einmal bedrückt haben, ohne dass wir es ganz genau wüssten. In Wittenberg bricht die Pest aus, Luther bleibt und wirkt als Seelsorger - das ist uns jetzt ganz nah. Auch die Pest war eine Epidemie und eine schreckliche Pandemie. Herzbeschwerden und Depressionen haben ihn im Griff.  Über den Tod eines Kindes schreibt er: “Ich habe erlebt, wie wehe es tut!” Für Luther war alles so schlimm, so dass er schreibt: “Ich bin im Tod und in der Hölle hin- und hergeworfen… Ich habe Christus ganz verloren und wurde von den Stürmen der Verzweiflung und der Gotteslästerung geschüttelt. Aber von den Gebeten der gläubigen Freunde bewegt, hat Gott begonnen, sich meiner zu erbarmen.”

Und Anfang 1528 schreibt er: “Aber Christus hält mich, obwohl ich an einem ganz dünnen Faden hänge.”

V.

Wenn man so bedrängt ist, da werden die Bilder der Mächte, die mich bedrängen, übermächtig und groß.

“Der alt böse Feind / mit Ernst er´s jetzt meint; / groß Macht und viel List / sein grausam Rüstung ist, / auf Erd ist nicht seins Gleichen.”

Der “altböse Feind” – eine starke sprachliche Wendung – es ist der Teufel, den Luther beim Namen nennt, wie wenn er eine Person wäre, der diabolos, der Durcheinanderwerfer. Für manche unter uns mag das gar nicht befremdlich wirken. Viele aber haben mit so einer persönlichen Vorstellung ihre Schwierigkeiten, ich auch.

Vielleicht kann uns die Psychologie etwas dabei helfen zu verstehen. Mit anonymen Mächten haben wir es schwer.  Eine ganz alltägliche Kleinigkeit: Jeder, der einmal versucht hat, einen Mobilfunkvertrag wieder loszuwerden, weiß, was es bedeutet, mit anonymen Kräften zu tun zu haben. Und derzeit merken wir es besonders stark. Es ist schwierig vorstellbar, wie ein winzig kleines Virus eine Welt in Atem hält. Da stellt mancher die Frage: Gibt es einen Willen, der dahinter steckt? Und ist er erkennbar oder benennbar? Und so ist es für manchen leichter, eine solche Macht zu personifizieren, mit einem Namen zu benennen. Auch die verschiedenen Verschwörungstheorien, die es derzeit zu Corona gibt, gehen davon aus, nach benennbaren Kräften, Strömungen und Personen zu fahnden, die, wie es heißt, unsere Wirtschaft und Weltordnung zu schwächen und anzugreifen suchen.

Wie dem auch sei: Kein Zweifel: Ich halte es heute für nicht sinnvoll, vom Teufel oder Satan zu sprechen, vor allem nicht als einem Gott gleichwertigen Partner. Das ist auch durch die biblischen Vorstellungen nicht gedeckt. Auch wenn uns Fake-News das glauben lassen und damit Angst machen wollen, wie bei Nine-Eleven, als im Internet in den brennenden Towers in New York eine Teufelsfratze zu sehen war, oder jetzt an verschiedenen Stellen der Corona-Debatte.

Wir können das Rätsel des Bösen nicht lösen, aber der Teufel löst es auch nicht. Nur eines lernen wir auch von Martin Luther: Wir haben nicht den Teufel an die Wand zu malen, sondern Jesus Christus. Wir haben nicht mit dem Teufel zu rechnen, sondern mit Jesus Christus. Wir glauben nicht an den Teufel, sondern an Jesus Christus.

Für Luther gibt es ein ganz einfaches und probates Mittel, sich diese Vorstellung auszutreiben: Singen gegen das Böse! Er hat es einmal lockerer und schön einem anderen Freund gesagt: „... wenn der Teufel kommet und gibt Euch Sorge oder traurige Gedanken ein, so wehret Euch frisch und sprecht: Aus, weg..., ich muss jetzt meinem Herrn Christus singen und spielen.“

Musik und Singen vertreiben auch die bösen Gedanken, die uns hinunter ziehen wollen. Nicht dass wir sie ignorieren dürften - aber das Singen von der festen Burg gibt uns die Kraft, ihnen in die Augen zu schauen und dann mit Vertrauen auch anzugehen oder in die Schranken zu weisen.

“Groß Macht und viel List/ sein grausam Rüstung ist” – Gefahr droht derzeit nicht nur von Corona, sondern wir müssen auch noch intensiver die Frage stellen, wer aus dieser misslichen Situation im Hintergrund für sich Gewinn auf Kosten anderer zieht? Wer die Situation vieler Menschen für sich ausnutzt?

Singen gegen das Böse - mindestens können Singen und Musik die Gedanken frei "blasen", damit wir wieder klarer sehen, und klar genug fragen können, und das Leben nicht aus der Hand geben! Und auch nach den vielen Menschen in aller Welt und unter uns fragen, die jetzt über Corona vergessen werden.

VI.

“Mit unsrer Macht ist nichts getan, / wir sind gar bald verloren.” Luther bietet als klaren Blick an:

“Es streit´ für uns der rechte Mann, / den Gott hat selbst erkoren.” Aber hilft das?

Und dann das andere: “Ein Wörtlein kann ihn fällen.” Welches Wörtlein? Ein “Wörtlein” – das könnte auch das kürzeste und deutlichste Wort unserer Sprache sein: ein “Ja”, das Ja, das Gott uns zuspricht; Ja, du bist etwas wert, du bist mir wert, dass dein Leben bewahrt bleibt! Es ist das Ja, das wir in der Taufe zugesprochen bekamen und auf das wir uns lebenslang berufen und verlassen können. Es könnte im übertragenen Sinne auch einfach “Vertrauen” heißen, “Glauben” – denn, wenn ich Gott vertraue, bin ich bei ihm, und er schon bei mir. Und Luther hat einmal so schön gesagt: “Im Glauben, im Vertrauen auf Gott fahren wir über uns hinaus in Gott hinein.” Ich finde, das ist einer seiner stärksten Sätze.

Das "fällt" die böse Welt, bringt zu Fall, das, was zerstörerisch ist, auch wenn es nur unter Schmerzen zustande kommt und wenn wir es durchaus auch ertragen und erleiden müssen. Glauben wird nicht ursächlich Corona-Tote verringern, aber Glauben und Vertrauen werden verhindern, dass wir in dieser Pandemie und auch in all dem vielen, was wir derzeit an Unrecht und Unheil in unserer Welt vergessen, ohne Hoffnung sind. Das Wörtlein - Gottes Ja, ist in Jesus Christus am deutlichsten vernehmbar: “Es streit´ für uns der rechte Mann, / den Gott hat selbst erkoren. / Fragst du, wer der ist? / Er heißt Jesus Christ.”

Das Trostlied tröstet, indem es mich ernst nimmt. “Fragst du, wer der ist…” Aber wie streitet er denn, er, der Gewaltlose, er, der selbst ohnmächtig und allein am Kreuz starb?

Es ist eine Zumutung des Glaubens: Regiert, gestritten, gekämpft wird so, wie wir es vorhin im Evangelium des Tages gehört haben:

Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.

Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.

Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.

Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.

Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.

Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich. (Matthäus 5, 4-10)

Dafür steht er, nach dem gefragt werden soll: Gäbe es jenen Menschenbruder Jesus, den Christus, nicht, dann bliebe Gott ein unpersönliches Schemen, bliebe er der "deus absconditus", der dunkle, der verborgene Gott. Aber so kennen wir ihn als den, der uns freundlich begegnet und seine Welt nicht verlässt.

VII.

Bleibt jene letzte Strophe unseres Liedes, die eine weitere Anfechtung bereithält.

"Nehmen sie den Leib, / Gut, Ehr, Kind und Weib: / lass fahren dahin, / sie haben´s kein Gewinn, / das Reich muss uns doch bleiben."

Viele können diese Strophe nicht mitsingen; gerade auch, sollte es sich um Betroffene in Corona-Zeiten handeln. Klingt es nicht zynisch, wenn Luther alles, was ein Leben im Sozialen wertvoll macht, so gering schätzt? Wo wir es in Corona so sehr neu wertschätzen lernen?

Wir verstehen Luther besser, wenn wir sehen, dass er hier eine ähnliche Formulierung gewählt hat, wie sie sich auch in der Reichsacht findet: dem Geächteten und für rechtlos Erklärten wurden «Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib» abgesprochen. Luther schätzt also das nicht gering, er pfeift und singt nur auf Acht und Bann, der ihn kurz vorher getroffen hat. Ja, es gibt die Situation an der Grenze: "Sie haben's (aber) kein Gewinn/ das Reich, Gottes Reich muss uns doch bleiben."

VIII.

Kehren wir noch einmal zum Anfang zurück: Die feste Burg - mit der Wartburg als Urbild ist das etwas Prächtiges, Erhabenes, Respekt Gebietendes. Als "Marseilleise des Protestantismus" war und ist unser Lied auch ein lautes und aufdringliches Lied geworden, das Überlegenheit zum Ausdruck bringen sollte. Ein Lied, das einerseits gegen die Angst angestimmt wird, aber andere wiederum ängstigt. "Gott - ein gute Wehr und Waffen" - das klingt martialisch und gewaltsam. Dabei wird etwas Wesentliches übersehen: Gott selbst  i s t  unser "Wehr und Waffen" - nicht ist Gott der, der selbst Krieg führt, der, der selbst eine Streitmacht befehligt, die andere unterwirft. Er selbst  i s t  Schutz und Schirm, Wehr und Waffen - eben nicht nach menschlicher Art, sondern nach göttlicher Weise. Und so lesen wir im Psalm 46, der dem Lied zugrunde liegt und den wir zu Beginn gesprochen haben:

9. Kommt her und schaut die Werke des Herrn, der auf Erden solch eine Umwälzung anrichtet,

10 der dem Krieg steuert in aller Welt, der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen verbrennt. 11 Seid stille und erkennt, dass ich Gott bin!

Deus refugium - Gott als Schutzraum, als Schutz- und Lebensort - er selber, und er, mitten unter uns, oft genug verdeckt und verdunkelt. Und er bewirkt Umbruch, Umwälzung. Er zerbricht menschliches Kriegsgerät und steuert den Kriegen in aller Welt - schwer zu glauben, kaum zu sehen - nur dem Vertrauenden ahnbar. Vielleicht durch die Melodie: Sie lässt sich nicht zum militärischen Marschieren nutzen, wohl aber zum Tanzen.

Und so ist im Grunde Luthers Trostlied kein lautes, kein aufdringliches, kein demonstratives Schlacht-Lied, sondern eben Trost. Und: sollen wir sagen: eher sogar ein stilles Lied? "Seid stille, erkennt, dass ich Gott bin."

Ich habe vor wenigen Tagen von einer bemerkenswerten Begegnung gelesen. Vor 15 Jahren wurde des lange verstorbenen Heidelberger Professors für Altes Testament, Gerhard von Rad, gedacht (er stammte übrigens aus Nürnberg). Am Ende der Akademischen Feier stand ein sehr alter Herr auf, es war der 101jährige berühmte Philosoph Hans-Georg Gadamer. Er sagte nur wenige Sätze im Gedenken an seinen Freund: "Wir haben uns gleich nach dem Krieg kennen gelernt, Gerhard von Rad und ich. Wir wohnten im selben Haus. Wir beide brauchten Stille um uns her. Die Nazis waren so laut gewesen. Wir brauchten Stille, um das zu hören, was im anderen war, in dem Menschen neben uns.“ Stille, um neu hören zu lernen, damit wir wahrnehmen können, was "im anderen war" - und: was Gott ist. "Seid stille, und ihr werdet erkennen, dass ich Gott bin".

Diese fruchtbare und im Letzten Leben erhaltende Stille kann auch aus der derzeit oft verordneten und schwierigen Stille und Zurückgezogenheit mit Corona erwachsen. Hören wir nicht nur auf die neuesten Nachrichten der Infektionen, die widersprüchlichen und schwierigen Podcasts, die täglichen Talkshows, die Gesänge der gegen alle Vernunft Feiernden, oder die laute Propaganda aus der US-Wahl. Vertrauen wir der sprechenden Stille, die Gott hört und auf das hören lernt, was im anderen ist - Trost, nicht von dieser Welt!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Es gilt das gesprochene Wort.

Pfarrer Christoph Reinhold Morath, Erlangen

(chris [punkt] 2610 [klammeraffe] t-online [punkt] de)

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