Predigt vom 29. September 2024

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.

Wir beten in der Stille um den Segen des Wortes:

„Herr, gib mir ein Wort für mein Herz und ein Herz für dein Wort. Amen.“

Liebe Gemeinde!

Wenn Engel ins Spiel kommen, steht uns der Himmel offen. Weis und hell und glänzend geht es zu. Dabei machen die Engel das nicht, nein, nicht die Engel schließen den Himmel auf, das macht Gott in Christus. Die Engel: die zeugen davon, die Engel weisen darauf hin, dass uns doch der Himmel offen steht, die Engel sind – Boten. 

Bote – das ist das Wort, das die Bibel verwendet. Und das ist nicht eindeutig: Es können ganz irdische Boten gemeint sein. Einer, der vom König genau gesagt bekommt: „In drei Wochen komme ich zu Besuch.“ Und das dann wortwörtlich ausrichtet. Und die Boten können auch himmlische Boten sein, die etwas von Gott ausrichten: „Euch ist heute der Heiland geboren!“ - „Er ist nicht hier, er ist auferstanden!“

Kein bisschen selbstbezogen sind sie, die Engel. Sie verweisen weg von sich: Auf den Auferstandenen. Auf den Heiland. Sie zeigen weg von sich – hin zu Gott. 

Dazu passt es, dass die Engel in der Bibel einfach „Boten“ heißen. Genau dasselbe Wort, das für menschliche Boten verwendet wird, da wird kein Unterschied gemacht! Und das geht wirklich ineinander über! Ist das ein irdisches Wesen, ist das ein himmlisches Wesen? Es ist ein Bote! Ein Bote, der eine Nachricht bringt – wie der Post-bote eben.

Waren es damals die rein himmlischen Wesen, die zu den Hirten sprachen in Betlehem und zu den Frauen im Grab, so kann ihre Aufgabe doch in der Folge von irdischen Wesen übernommen werden: Von einer Mutter, die ein leuchtendes Weihnachtszimmer aufbaut und so auf den Heiland hinweist. Von einem Pfarrer, der ein verrücktes Ostereiersuchen organisiert auf dem Friedhof und so die Auferstehung in Köpfen und Herzen verankert. Von einer, die die Ostergeschichte liest in der Osternacht mit ihrem ganzen Herzen und so ihre Bewegung und ihre Freude weitergibt.

Sind Engel irdisch oder himmlisch? Sie sind halt Boten! Sie weisen darauf hin, dass uns der Himmel offen steht.

In der Geschichte, die ich Ihnen heute erzählen werde, verdeutlicht der Engel die grundlegende Christustat: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Wo wir es mit Christus zu tun haben, da fallen viele Fesseln ab. Wir werden frei. 

Die Befreiungsgeschichte, die heute Predigttext ist, erzähle ich am Schluss. Zuvor einige Hinweise für ein vertieftes Verstehen:

I Es bleiben Fragen offen

- Das ist zum ersten die Frage, die so schwer ist und auf die es keine Antwort geben wird in diesem Leben: Warum wird der eine beschützt und die andere nicht? Warum stirbt die eine am Krebs und beim anderen schlägt die Behandlung an? „Wenn auch tausend fallen zu deiner Seite / und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen.“ – Ach, mein Gott, ja ich brauche deinen Schutz, aber doch bitte auch die zu meiner Seite, die brauchen ihn doch auch! Ich will doch nicht als einzige übrig sein! Der Psalm 73, den wir zu Beginn gebetet haben, überlegt in seinem ersten Teil genau das, warum es den Guten schlecht geht und den Schlechten gut – und kann dann doch nur sagen „dennoch bleibe ich stets an dir, mein Gott“. Ja, die Frage wird nicht beantwortet, sie bleibt offen, über das „dennoch“ kommen wir nicht hinaus. Da gibt es boshafte Politiker zu allen Zeiten, damals war es der Herodes (Beiname Antipas), ein Enkel des Herodes aus der Weihnachtsgeschichte, genauso verschlagen und gemein wie sein Großvater. Er schaffte es, einerseits bei den Römern lieb Kind zu sein und andererseits bei dem jüdischen Volk, das er beherrschte, zu punkten. Dazu lies er den Jakobus, der ein wichtiger Mensch war in der ersten Gemeinde in Jerusalem, verhaften. Dem Jakobus blieb auf seinem Weg nur das „dennoch“ – er wurde umgebracht. Kein irdisches oder himmlisches Wesen kam, ihn zu retten. Es ist die Stärke und Realitätsnähe der Bibel, diese Fragen offen zu lassen.

II Von den Fesseln und vom Abfallen der Fesseln

Das Zentrum der Erzählung ist die Befreiung des Petrus. Die Ketten, die Petrus an seine Bewacher fesseln, fallen einfach ab, als der Engel erscheint. Ein Zentralthema des christlichen Glaubens wird hier wunderbar plastisch geschildert: Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Und, ja, es gibt ja so viele Fesseln! Wir kennen viele Fesseln, die uns am Leben hindern.

„Ich kann es nicht,“ sagt der junge Mann, „ich kann ihr doch nicht einfach meine Liebe gestehen. Ich kann nicht.“

„Ich traue mich nicht, den Professor anzurufen und um eine Zeitverlängerung zu bitten,“ sagt die Studentin.

„Die großen Konzerne, die wissen, wie sie um das Steuerzahlen herumkommen,“ sagt die Resignierte, „ich kriege alles direkt vom Lohn abgezogen, ich kann keine Steuern hinterziehen.“

„Apple und Google, die machen doch sowieso, was sie wollen,“ sagt der Nichtwähler, „uns Europäer ziehen sie nur über den Tisch.“

„Es ist sowieso egal, was ich tue,“ sagt der Vielreisende „der Klimawandel ist nicht aufzuhalten.“

„Fremde Menschen jagen mir Furcht ein,“ sagt die Ängstliche, „wenn einer schon so dunkel aussieht.“

„Der Streit lässt sich nicht mehr beilegen,“ sagt die Hoffnungslose, „der Mensch ist für mich durch, er hat sich so unmöglich benommen.“

„Oben und unten hat es immer gegeben und wird es immer geben“, sagt der Zyniker, „so sind die Menschen eben.“

Wir kennen viele Fesseln, die uns am Leben hindern. Welche Fesseln kennen Sie?

Zur Freiheit hat uns Christus befreit, wenn Engel auftauchen, fallen die Fesseln, die uns am Leben hindern, ab. 

Dazu einige Beispiele:

Da gibt es Margreth Verstager, die dänische EU-Kommissarin, die unerschrocken prüft, ob sich Konzerne an die Richtlinien der europäischen Union halten. Sie hat es geschafft, dass Google eine hohe Kartellstrafe zahlen muss [2,4 Milliarden Euro] und dass Apple auch in Europa Steuern zahlen muss und nicht nur von der Infrastruktur profitiert [13 Milliarden einer irischen Steuerrechnung]. Ja, das sind so komplizierte Zusammenhänge, dass ich kaum durchsteige, aber es gibt Leute, die darauf achten, dass die Konzerne nicht einfach machen können, was sie wollen. 

Da gibt es eine Staatsanwältin, die raffinierte Steuerhinterziehungswege in Deutschland ahndet. Es werden ihr viele Steine in den Weg gelegt. Schließlich entscheidet sie sich, ihre Arbeit zu wechseln: Sie wird Geschäftsführerin für den Verein „Finanzwende“ und kann nun in aller Freiheit dubiose Geschäfte anprangern. 

Da gab es schon vor 870 Jahren eine Nonne, die es tatsächlich wagte, sich mit Hildegard von Bingen persönlich anzulegen. Mit Recht, finde ich, ich zitiere wörtlich: "Es erscheint uns aber verwunderlich (…), dass Ihr in Eurer Gemeinschaft nur von Geburt aus Ansehnliche und Freie aufnehmt, anderen, die nicht adlig und weniger reich sind, jedoch die Gemeinschaft mit Euch gänzlich verweigert. So stocken wir (…), da wir (…) bedenken, dass der Herr selbst in der Urkirche Fischer, kleine und arme Leute ausgewählt hat." – das war eine frei von den Ketten der mittelalterlichen Standeslehre. Und hat auf die lange Sicht Recht bekommen…

Da gibt es schwierige Beziehungen in einer Familie, immer wieder Begegnungen mit Sprengstoffcharakter. Aber trotzdem versuchen alle, in Verbindung zu bleiben, höflich zu bleiben, etwas zu geben. Und manchmal gelingt dann ein Nachmittagskaffee. 

Manchmal fallen Fesseln einfach ab.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit, wenn Engel auftauchen, fallen die Fesseln, die uns am Leben hindern, ab.

Ob das irdische Engel sind oder himmlische, ist manchmal gar nicht so leicht auseinanderzuhalten. Manch ein Ausleger von Apostelgeschichte 12 überlegt, ob Petrus seine Befreiung als Engelstat geschildert hat, um menschliche Helfer vor der Rache des Herodes zu schützen.

III Es darf gelacht werden

Die Geschichte endet slapstickmäßig – Sie werden es hören… Ja, wenn Engel im Spiel sind, ist auch Leichtigkeit dabei und Schmunzeln und Lächeln und Lachen…

Und Gott wird gelobt, darum geht es den Engeln, nicht sie wollen gelobt werden, Gott soll gelobt werden. Das tun wir jetzt mal! 

332, 1-4 Lobt froh den Herrn, ihr jugendlichen Chöre!

Und nun also Apostelgeschichte 12:

Wir gehen in ein Gefängnis. In der Nacht. Ein mickriges Öllämpchen wirft mehr Ruß als Licht an die Wand und bedrohliche Schatten. Es stinkt nach verbranntem Öl und Urin und Angstschweiß. Trotzdem schläft Petrus. Er hat es in schmerzhaften Lektionen gelernt, hinzunehmen, was er nicht ändern kann. Die Eisenketten, die ihn links und rechts an einen Soldaten fesseln, die kann er nicht ändern. Dass Herodes Antipas ihn eingebuchtet hat, das kann er nicht ändern. Dass dieser Herodes schon seinen Freund und Mitchristen Jakobus umgebracht hat, kann er nicht ändern. Die Angst, die immer wieder kommt, die kann er auch nicht ändern, aber er kann mit Christus über die Angst sprechen. „Du kennst das ja.“ Sagt er, „damals wollte ich nur weg von der Angst. Schau her, jetzt kann ich mit dir darüber sprechen.“ Und dann wird die Angst manchmal so klein, dass Petrus sogar einschlafen kann. Schnarcht zwischen den beiden grimmigen Soldaten. Plötzlich knufft es ihn in die Seite, ein Schlag! Petrus blinzelt – es ist auf einmal glänzend hell in der Zelle! Verwirrt versucht Petrus sich aufzurichten – und er kann es, die Ketten sind abgefallen! „Zieh dich an!“ hört er eine Stimme, verwirrt befolgt er diesen Befehl, „und die Schuhe!“ Auch das. „Folge mir!“ heißt es und Petrus steht auf, die Soldaten schlafen immer noch, vorsichtig tritt Petrus auf, folgt dem Engel aus der Zelle, vorbei an den schlafenden Soldaten davor. Sie huschen den Gang entlang bis zur großen Eisentür, der Engel streckt die Hand aus, die schwere Türe geht auf, sie stehen draußen. Benommen geht Petrus neben seinem Befreier, weiß nicht, ob er wacht oder träumt. An der nächsten Straßenecke verschwindet der Engel – so ist das mit Engeln, grad wenn wir verstehen, was sie tun, sind sie auch schon weg.

Petrus tastet sich weiter in der dunklen Stadt, er kennt sich aus, er findet das Haus, in dem die Gemeinde zusammensitzt und betet. Er klopft ans Tor. 

Klopft lauter. Da kommt sie, das Mädchen für alles der Familie, Rhode heißt sie, weil sie aus Rhodos ist. „Wer ist da?“ fragt sie und Petrus zischt „Ich, der Petrus! Ich bin frei!“ Freudig-verwirrt dreht sich die Rhode auf den Fersen um, läuft lachend ins Haus, platzt in die Gebetsrunde, ruft „Der Petrus ist da!“ „Wie? Wo?“ Für die Freilassung haben sie gebetet. Dass ihr Gebet in Erfüllung geht, haben sie nicht auf dem Schirm. „Er steht vor dem Tor!“ – „Rhode, du spinnst. Das ist deine Einbildung – oder gut, sein Engel, die Gestalt, die ihn im Himmel vertritt. Aber nicht der Petrus selbst!“ Aber, sie hören es: Es klopft weiter. Da gehen sie hin. Und machen auf und der Petrus ist da und sie sind außer sich und fassungslos. Petrus hebt die Hand, es wird still. Er erzählt kurz von seiner Rettung, bittet darum, es weiterzugeben. Dann verschwindet er in die Freiheit. Die Gemeinde bleibt zurück, lebt weiter, auch ohne Petrus. Das Evangelium wird weiter verkündigt. Bis heute befreit Christus. Bis heute sind da Engel mit im Spiel, irdische und himmlische – wer kann das schon so genau auseinanderhalten?

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

Pfarrerin Dr. Bianca Schnupp

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