Predigt vom 10. Oktober 2021

 

Predigt über Jesaja 38, 9-20

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus.

Liebe Gemeinde!

Seit vier Jahren haben wir eine neue Lutherbibel. Einen großen Vorzug sehe ich darin, dass sie deutlich im Schriftbild unterscheidet zwischen Prosa und Poesie im engeren Sinn; also zwischen erzählenden Textteilen, die im Blocksatz gedruckt sind, und freier Dichtung, in der die Zeilen dem Rhythmus der Sprache folgen, wie man es etwa von Gedichten kennt.  So wird schon durch das Schriftbild kenntlich, dass wir Psalmen nicht nur im Buch der Psalmen haben, sondern auch an anderen Stellen der Bibel, wo sie den Fluss der Handlung unterbrechen. Das bekannteste Beispiel dafür ist das Magnifikat aus dem Lukasevangelium. Auch unser Predigttext ist ein solcher Psalm:

9Dies ist das Lied Hiskias, des Königs von Juda, als er krank gewesen und von seiner Krankheit gesund geworden war:
10Ich sprach: In der Mitte meines Lebens
 muss ich dahinfahren,
   zu des Totenreichs Pforten bin ich
   befohlen für den Rest meiner Jahre.
11Ich sprach: Nun werde ich
nicht mehr sehen den Herrn,
   ja, den Herr im Lande
   der Lebendigen,
nicht mehr schauen die Menschen,
   mit denen, die auf der Welt sind.
12 Meine Hütte ist abgebrochen
    und über mir weggenommen
wie eines Hirten Zelt.
Zu Ende gewebt hab ich mein Leben
wie ein Weber;
       er schneidet mich ab vom Faden.
Tag und Nacht gibst du mich preis;
         13bis zum Morgen schreie ich
       um Hilfe;
aber er zerbricht mir alle meine Knochen
wie ein Löwe;
      Tag und Nacht gibst du mich preis.
14Ich zwitschere wie eine Schwalbe
     und gurre wie eine Taube.
Meine Augen sehen verlangend
nach oben:
   Herr, ich leide Not, tritt für mich ein!
15Was soll ich reden und was ihm sagen?
      Er hat’s getan!
Entflohen ist all mein Schlaf
      bei solcher Betrübnis meiner Seele.
16Herr, davon lebt man,
     und allein darin liegt
     meines Lebens Kraft:
Du lässt mich genesen
     und am Leben bleiben.
18Denn die Toten loben dich nicht,
     und der Tod rühmt dich nicht,
und die in die Grube fahren,
     warten nicht auf deine Treue;
19sondern allein, die da leben,
loben dich so wie ich heute.
     Der Vater macht den Kindern
     deine Treue kund.
20Der Herr hat mir geholfen,
     darum wollen wir singen
     und spielen,
solange wir leben,
      im Hause des Herrn.

 

Unterbrechung ist das entscheidende Stichwort. Poesie unterbricht den Fluss des Alltags, den Strom der Zeit. Sie lässt innehalten und das, was geschieht, mit anderen Augen sehen. Auch der Gottesdienst ist so eine Unterbrechung, der den Alltag anhält und unser Leben auf Gott hin öffnet.

Wann haben sie zum letzten Mal ein Gedicht gelesen, Musik bewusst gehört, eine Blume betrachtet oder einem Vogel gelauscht? Und das nicht nur nebenbei zur Kenntnis genommen, sondern so, dass ihnen dabei die Schönheit der Welt und die Kostbarkeit des Lebens überhaupt bewusst geworden sind. Ohne solche Unterbrechung wird unser Leben stumpf.

Was Hiskias Psalm unterbricht, ist die Prosa seiner erzählten Geschichte, wie wir sie in den ersten Versen des Kapitels lesen:

1Zu der Zeit wurde Hiskia todkrank. Und der Prophet Jesaja, der Sohn des Amoz, kam zu ihm und sprach zu ihm: So spricht der Herr: Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben und nicht am Leben bleiben. 2Da wandte Hiskia sein Angesicht zur Wand und betete zum Herrn 3und sprach: Ach, Herr, gedenke doch, wie ich vor dir in Treue und ungeteilten Herzens gewandelt bin und getan habe, was dir gefällt. Und Hiskia weinte sehr.

Hiskia ist todkrank und bekommt Besuch von Jesaja. Er kommt aber nicht, ihn zu trösten oder Mut zuzusprechen, sondern hat für ihn eine bittere – nennen wir es einmal – Diagnose: Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben und nicht am Leben bleiben. Hiskia hatte noch Pläne für viele Jahre. So wie wir ja auch auf Zukunft hin ausgerichtet sind. Wer jung ist, denkt an Ausbildung, Beruf, Karriere, vielleicht Familie. Die älteren freuen sich irgendwann auf den Ruhestand und auch die richtig alten Menschen leben nicht nur mit dem Bewusstsein der begrenzten Zeit, sondern für das morgen und übermorgen.

Eine schlimme Diagnose macht plötzlich alles anders. Die Zeit bleibt stehen. Menschen sind aus der Bahn geworfen - wie der Radrennfahrer, den es aus der Kurve trägt, und für den das Rennen gelaufen ist. Smalltalk ist fortan ein Graus. Dafür sind wenige Menschen umso wichtiger.
Wie geht man um mit solch einer Nachricht, wie sie Hiskia erhalten hat?

   Du sagst mir etwas -
   ich drehe mich zur Wand,
   zeige dir die kalte Schulter.

Das ist mindestens ein unfreundlicher, trotziger Akt.
   Mit dir rede ich nicht mehr.
   Mit dir will ich nichts mehr zu tun haben.

So eine Diagnose lässt verstummen; sie trennt von anderen. Sei es, dass man sich selbst isoliert, oder von anderen gemieden wird.

Dass Hiskia sich zur Wand dreht, ist aber auch ein symbolischer Akt, der vorwegnimmt, was der Tod bedeutet, wie Hiskia in der Sprache der Poesie selbst sagt:

Nun werde ich
nicht mehr sehen den Herrn,
   ja, den Herr im Lande
   der Lebendigen.

Der Tod ist das endgültige Zerbrechen von Beziehungen.

Beklagt Hiskia, was der Tod ihm alles nehmen wird, so sagt er indirekt damit auch, was das Leben ausmacht.

Leben ist mehr als Gesundheit. Leben ist Zusammenleben. Leben ist, dass man sieht die Güte Gottes im Land der Lebendigen. Leben ist, dass man schaut die Menschen, mit denen man zusammen auf der Welt ist. Leben kennzeichnet, dass man es nicht für sich allein lebt, sondern dass es verwoben ist mit anderen Leben wie ein kunstvolles Webstück, von dem der Tod den letzten Faden abschneidet, das im Leben aber Schutz gibt wie das Zelt dem Hirten in kalter Nacht.

Liebe Gemeinde, glauben sie nicht denen, die ihnen – meist verbunden mit einem Geburtstagswunsch – einreden wollen, Gesundheit sei das Allerwichtigste. Und mit Gesundheit ist hier das Ausbleiben von Krankheiten gemeint. So verwendet den Begriff auch das sogenannte Gesundheitswesen. Wessen Röntgenbilder und Laborwerte unauffällig sind und bei dem keine bekannte Krankheit diagnostiziert werden kann, der ist gesund.
Aber das ist ja noch nicht das, was das Leben ausmacht. Die Bibel hat da einen viel weiteren Horizont. Weil Leben immer Leben in Beziehungen ist, ist alles, was Menschen von Menschen und Menschen von Gott trennt dem Leben feindlich. Das biblische Wort dafür ist Sünde.
Wir können einen Blick auf das Evangelium dieses Sonntags werfen, die bekannte Geschichte von der Heilung eines Gelähmten (Markus 2, 1-12). Vier Männer decken das Dach auf und lassen einen Gelähmten an Seilen mitsamt seiner Trage hinunter in einen übervollen Raum, weil sie anders nicht hineinkommen. Sie legen ihn ab direkt vor den Füßen von Jesus. Die ganze aufwendige Aktion ist eine einzige stumme Bitte: Jesus hilf diesem Kranken und heile seine gelähmten Beine.
An dieser Stelle der Geschichte verspüre ich immer eine Enttäuschung, die die Menschen in dem Raum vielleicht geteilt haben. Denn Jesus entspricht dieser Erwartung gerade nicht sondern sagt: Deine Sünden sind dir vergeben. Jesus sieht offenbar tiefer und bringt das ganze Leben in Ordnung. Was nützen die gesunden Beine, wenn dieses Leben mit sich selbst nicht im Reinen ist? Darum reißt Jesus zuerst die trennenden Mauern in und um dieses Leben ein. Und erst dann geschieht die Heilung der gelähmten Beine, um zu zeigen, dass Jesus auch die Vollmacht Gottes hat, Leben zu heilen.

 

Auch in Hiskias Psalm hören wir, dass Leben mehr ist als Gesundheit.

17Siehe, um Trost war mir sehr bange.
       Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen,
dass sie nicht verdürbe;
     denn du wirfst alle meine Sünden
     hinter dich zurück.

 

Zurück von der Poesie, die mit großer Kraft zur Sprache bringt, was das Leben ausmacht, zur erzählten Geschichte Hiskias. Er dreht sich zur Wand. Doch seine Abwendung von Jesaja ist zugleich Hinwendung zu Gott.
Es ist, liebe Gemeinde, unsere Freiheit, mit den Dingen, die uns herausfordern, so oder so umzugehen; uns so oder auch ganz anders zu ihnen zu stellen.
Wir können resignieren oder kämpfen.
Wir können uns aufgeben oder den Dingen entgegenstellen.
Wir können uns Herausforderungen verweigern oder sie annehmen.
Wir können uns klein machen lassen oder darauf vertrauen zu wachsen.
Das ist unsere Freiheit. Und Hiskia macht von ihr Gebrauch, indem er sich nicht ins Schneckenhaus zurückzieht, sondern Gott zuwendet.
Diese Freiheit ist immer bedroht durch das, was Menschen widerfährt; sie einfach überrollt, lähmt und verstummen lässt.
Darum muss gefragt werden, worin solche Freiheit begründet ist.
Hiskia gibt eine Antwort: Es ist die Überzeugung, das Vertrauen darauf, dass das ganze Leben in Gottes Händen liegt und bei ihm geborgen ist.
Das gilt für das Schwere, das uns widerfährt:
 
13Bis zum Morgen schreie ich
       um Hilfe;
aber er zerbricht mir alle meine Knochen
wie ein Löwe;
      Tag und Nacht gibst du mich preis.
15Was soll ich reden und was ihm sagen?
      Er hat’s getan!

Und
das gilt auch für das Gute,
das wir erfahren:
16Herr, davon lebt man,
     und allein darin liegt
     meines Lebens Kraft:
Du lässt mich genesen
Und am Leben bleiben.

Das ganze Leben in Gottes Hand – Grund unserer Freiheit.

Hiskia ist geheilt. Seine Geschichte ist gut ausgegangen. Und er antwortet darauf mit der Poesie des Lobes Gottes. Doch viele Geschichten sind anders und gehen nicht gut aus – jedenfalls nach unserem Ermessen. Auch sie sind im Gedächtnis Gottes bewahrt. Und sie sind es wert, dass wir sie bewahren und weiter erzählen. Auch wenn unsere Antwort darauf nur die Klage sein kann.
Mit ihnen halten wir fest, dass es keinen Automatismus Krankheit – Gebet – Heilung gibt.
Es gibt nur Gottes neuschaffende, schöpferische Kraft – so ließe sich Poesie auch umschreiben –, die Leben schafft und Leben heilt. Gottes Poesie durchkreuzt die Verzagtheit und Hoffnungslosigkeit in den Erzählungen unseres Lebens.
Und sie reicht weiter, als Hiskia geglaubt hat:

18Denn die Toten loben dich nicht,
     und der Tod rühmt dich nicht,
und die in die Grube fahren,
     warten nicht auf deine Treue;
19sondern allein, die da leben,
loben dich so wie ich heute.

Denn die Geschichte Jesu Christi erzählt uns, dass auch der Tod nicht von der Liebe Gottes trennen wird und wir auferstehen werden zu ungeteiltem Lob Gottes.

Vielleicht können wir von Hiskia lernen, unser gantes Leben in Klage und Lob vor Gott zu bringen und so in Gottes Hände zu legen.
Solche Poesie öffnet ein Fenster zum Himmel, ein Fenster zu Gott.
Halten wir es offen, so dürfen wir leben in der Erwartung, dass Gott auch unser Leben heilt. Amen

Pfarrer Cyriakus Alpermann

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