Jesaja 40,26-31 (wird während der Predigt gelesen)
Predigt
I.
Liebe Gemeinde!
Quasimodogeniti heißt der heutige Sonntag, übersetzt “wie die neugeborenen Kinder”. Wie geht es einem neugeborenen Kind?. Alles ist neu, nichts hat es bereits gesehen oder gehört, nichts erfahren. Dies ruft in ihnen eine unbändige Neugier hervor. Alles ist interessant, muß ausprobiert werden und auch Fehlschläge bremsen nicht. Anstoßen und hinfallen verursachen zwar heftiges Weinen, aber nur kurz, bevor der nächste Anlauf gestartet wird. Oft sind viele solcher Anläufe nötig, bis es endlich klappt: das Krabbeln, das Laufen, das Sprechen, das Singen, das Klettern, später der Kindergarten, die Schule, die Lehre, das Studium. Lange dauert dies Lernen, man sagt so etwa 20 Jahre, in denen die Lust auf Neues nicht verschwinden darf.
Vieles ist neu, vieles anders in diesen Tagen. Unser Leben hat sich drastisch umgekrempelt. Ein kleines Virus stellt unsere gewohnten Wege auf den Kopf. Die Rezepte der letzten ähnlichen Krankheitswelle sind 100 Jahre alt, sie taugen nicht mehr. Wie gehen wir mit dieser Situation um?
Der Kollege wird nach Hause geschickt: Homeoffice. Er nimmt seinen Rechner, Monitor, Tastatur und Maus mit, aber die Verbindung klappt nicht so recht, die Arbeit ist mühsam. Dazwischen stören die Kinder, denn schließlich ist Papa ja zu Hause.
Mama müßte eigentlich auch arbeiten, aber ihr Arbeitgeber hat sie in Kurzarbeit geschickt. Stattdessen soll sie jetzt den Unterricht der Schule übernehmen. Es gibt zwar Materialien, aber die eigene Schulzeit ist so lange her, da muß sie selbst erst wieder lernen. Früher konnte sie die Kinder immer wieder mal bei Oma und Opa abliefern, nur die gehören jetzt zur Risikogruppe, die darf man nicht mehr persönlich treffen.
Dieses Ganze auf die Sorgen, die vorher schon da waren obendrauf. Lust auf Neues? Eher nicht. Dafür sind die Nerven angespannt, es ist zum Verzweifeln, zum Müde werden.
Ja, manche Menschen sind dauerhaft müde. Wie mit gebrochenen Flügeln bewegen sie sich mühsam durchs Leben. Sie sind mit ihrer Kraft am Ende.
Ich möchte Sie gerne fragen: Gehören Sie auch zu diesen Menschen? Vielleicht nur ab und zu, vielleicht gerade jetzt wieder in dieser Zeit?
Falls ja, dann richtet sich unser heutiges Predigtwort besonders an Sie. An die müde Gewordenen, die sich überfordert fühlen, die lahme Flügel haben, und die nicht mehr so recht “fliegen” wollen.
Geschrieben sind diese Worte aus Jesaja 40 ursprünglich für die, deren Hauptstadt Jerusalem etwa 600 Jahre vor Christus von babylonischen Truppen in Schutt und Asche gelegt worden war, und die man ins Exil nach Babylon deportierte. Schon seit Generationen leben sie nun dort im fremden Land. Sie deuten ihr Schicksal als Gottes Strafe für den Unglauben ihres Volkes. Die Vorfahren hatten nicht auf die Warnungen der Propheten gehört und nun müssen sie immer noch die Konsequenzen tragen. Mittlerweile macht sich im Exil Resignation breit. Ihr Gott hat sich anscheinend für immer von ihnen abgewandt. Die Leute sind – so würde man heute sagen – völlig fertig.
Mitten in diese Situation hinein beruft Gott in Babylon einen Propheten. Seinen Namen kennen wir nicht, aber seine Worte sind im Jesajabuch aufbewahrt. Luther nannte diese Kapitel 40-55 das “Trostbuch von der Erlösung Israels”. Unser Predigttext gibt davon eine Kostprobe. Ich stelle mir vor, wie dieser Prophet in einer der traurigen Nächte in die Runde seiner Landsleute tritt und ihnen Folgendes zuruft:
26 Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt.
27 Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«?
28 Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich.
29 Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden.
30 Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen;
31 aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Das erste, was der Prophet hier tut: Er erinnert die frustrierten Leute wieder an Gottes Macht. Er will die vom Frust zugeklebten und vernebelten Augen wieder öffnen. Er sagt: “Schaut euch doch mal um in Gottes Schöpfung! Seine Macht ist unendlich groß, viel größer als alle Mächte, die euch einschüchtern und Angst machen.” Heute würde ich sagen: “Gott ist größer als die globalen Finanzmärkte, größer als alle Veränderungen durch die Digitalisierung, größer als der Klimawandel, größer als jede Krankheit.” Natürlich sind das alles große Probleme, es geht nicht ums Schönreden. Aber GOTT ist immer noch größer, und die Probleme haben nie die LETZTE Macht. ER ist der Schöpfer. Schaut euch in seiner Natur um! Er, der all das geschaffen hat, wird euch helfen und euch wieder aufbauen.”
Das sind starke Worte. Und natürlich provozierten sie damals schon zur Gegenrede: “Was soll denn dieses Gerede von Gottes Macht! Gegenüber der Stärke Babylons und all dem sichtbaren Prunk hier mit den goldenen Götterstatuen, da kann doch unser Gott nicht mithalten! Unser Gott ist zu schwach.”
Nicht wenige unserer Zeitgenossen heute denken ganz ähnlich: “Ja, wo ist denn Gottes Macht, wenn die Polkappen schmelzen, die Unwetter zunehmen, Krankheiten töten, wenn Gewalt und Geld die Menschen unterjocht…?”
Nun, unser Prophet kennt diese Einwände. Doch er bleibt dabei: “Die Kraft unseres unsichtbaren Gottes ist trotzdem größer, auch wenn die Mächte dieser Welt noch so prächtig oder furchteinflößend daherkommen. Das Universum, die Völker, die Menschen, all das ist doch von IHM. Unser Gott ist unvergleichlich viel größer als alles, was du auf den ersten Blick siehst. Und was immer auch geschieht, du Volk Israel, du Mensch, du bleibst deinem Schöpfer wichtig. Du bleibst sein geliebtes Geschöpf! Auch wenn du matt und müde bist, vom Leben gezeichnet und völlig fertig – Gott ist und bleibt für dich da. ER wird dir neue Kraft geben! Er wird dir sogar wieder Flügel verleihen! Vertraue ihm!”
Liebe Gemeinde, aber genau das fällt uns schwer, nicht wahr? Woran mag es liegen, dass wir dieser Zusage nicht leicht vertrauen? Es könnte an falschen Erwartungen Gott gegenüber liegen. Es könnte damit zusammenhängen, dass Menschen sich Gott vorstellen wie eine schnell wirksame Tablette: “Da ist ein Konflikt. Da ist ein Problem. Da ist unsere Müdigkeit. Dann schnell mal ein Gebet. Und schon sollte alles wieder im Lot sein.” Viele haben derartige Erwartungen an Gott und ein entsprechendes Bild von ihm im Kopf: Gott, der schnelle, übernatürliche Helfer. Und wenn er das nicht bringt, wenn er das in der Vergangenheit schon nicht so gebracht hat, dann schreiben wir ihn ab! Wir leben heute in der Welt des Knopfdrucks oder Mausklicks. Ich habe ein Bedürfnis. Ich drücke einen Knopf. Und schon wird die Wäsche gewaschen, der Kaffee zubereitet, die Nachricht verschickt usw.
Ich fürchte, mit dieser “Knopfdruckerwartung” begegnen Menschen heute auch unserem Gott und seinen Zusagen. Aber das ist ein großes Missverständnis. Das mit dem Knopfdruck ist UNSER Lebensgefühl, nicht Gottes Weg, jedenfalls in den allermeisten Fällen. Gott tickt anders. Er will nicht “auf die Schnelle” unser Helfershelfer sein wie eine Art Service-Dienstleister.
Sein vorrangiges Interesse an uns ist, dass wir ihm als unserem Gott grundsätzlich vertrauen, dass wir uns nachhaltig an ihn binden, auf lange Sicht, dass wir uns immer fester und enger an ihn binden, und so Ewigkeit gewinnen, Ewigkeit bei und mit Gott.
Denken wir an Ostern! Gott hat durch die Auferweckung Jesu nicht einfach “mal schnell” das Problem von Karfreitag repariert. Jesus hat nicht einfach weitergelebt. Sondern Gott hat Jesus in die Ewigkeit hinein auferweckt.
Darum geht es ihm auch bei uns: Indem wir uns fest an Gott binden, ihm und seiner Macht vertrauen, gewinnen wir Ewigkeit. Und das strahlt dann hinein in den konkreten Alltag. Gott vertrauen heißt wissen: “Ich werde ewig geliebt und angenommen sein.” “Und das gibt mir Kraft heute, hier und jetzt. Das baut mich auf, das gibt mir Flügel, gerade wenn ich mich müde und fertig fühle.”
Doch das alles funktioniert eben nicht per Knopfdruck. In unserem Text heißt es: “Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft.” Dieses Harren lässt sich gut übersetzen mit “vertrauen und warten können”. Gott lässt sich nicht hetzen. Ohne die Bereitschaft, zu warten, werden wir regelmäßig frustriert sein und in unserm Glauben enttäuscht werden. Wir sind heute nahezu besessen davon, sofort Ergebnisse zu sehen. Aber Gott denkt nicht in Minuten, sondern eher in Generationen. Denken wir an das lange Exil Israels in Babylon. Er mutet uns das Warten zu. Manchmal geht es in den Kämpfen des Lebens schlicht darum, festzuhalten an Gott, mit dem Vertrauen weiterzumachen, nicht damit aufzuhören.
Und wenn wir derart “harren”, also “vertrauen und warten können”, dann werden wir auch besondere Zeiten mit Gott erleben. Momente, in denen wir spüren: Jetzt hat Gott mich aufgerichtet! Vielleicht anders als ich es vorher erwartet hatte, aber Gott hat mich in meiner Müdigkeit neu gestärkt. Manchmal sogar so intensiv, dass ich wirklich denke, ich fliege wie ein Adler. Gott schenkt uns solche Momente, in denen wir wieder Frieden bekommen. Wir kriegen wieder Boden unter den Füßen. Neue Energien fließen uns zu. Wieder Kraft für den Job, für den schwierigen Kollegen, für die Beziehung, für eine Aufgabe oder eine notwendige Veränderung. Solche Erfahrungen sind nicht erst in der Ewigkeit, sondern schon jetzt möglich.
Anderthalb Wochen hat es gebraucht, bis der Computer und die Programme endlich funktionierten. Dann saßen wir am Ostersonntag am Kaffeetisch: Meine Frau und ich an einem Ende. Am anderen Ende stand der Bildschirm und darauf per Videokonferenz fast alle Kinder und Enkel.
Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden (V.31).
Ich wünsche Ihnen allen so ein “harrendes” Vertrauen und dann auch solche guten Erfahrungen mit unserem lebendigen, mächtigen und wahrhaft wirksamen Gott.
Amen.
Verfasser: Dr. Arno Mattejat
unter Verwendung einer Vorlage von
Pfarrer Armin Kübler
Reidenburger Str. 25, 93309 Kehlheim
armin [punkt] kuebler [klammeraffe] gmx [punkt] de
© Gottesdienst-Institut - Lesegottesdienste - Intranet www.elkb.de
- 101 Aufrufe