Predigt vom 19. Juli 2020

19.7.2020, 6. Sonntag nach Trinitatis

Predigt zu 5. Mose 7, 6-12

I.

Liebe Gemeinde!

Zum Anfang habe ich davon gesprochen, daß wir uns an diesem Sonntag an die Taufe erinnern.Das Evangelium, das vorhin gelesen wurde, paßt dazu. Paßt aber auch der Predigttext aus dem Alten Testament, geschrieben viele Jahrhunderte vor den Ereignissen des Neuen Testaments?

Lassen Sie mich dazu eine Geschichte erzählen. Vor Kurzem haben mich meine beiden Enkelmädels besucht. Die Kleine kann gerade krabbeln und die Große ist auch noch keine zwei Jahre alt. Neugierig sind sie beide, oft erstaunen sie mich mit Dingen die sie schon können und die ich ihnen noch nicht zugetraut hätte. Trotzdem braucht es das wache Auge eines Erwachsenen und auch die schnelle Hand, die ein größeres Mißgeschick verhindert.

Wenn ich ihre Entwicklung beobachte, kann ich nicht anders als staunen. Und lächeln. Und liebhaben. Gott geht es auch so. Gott hat eine Schwäche für das Schwache, das Kleine.

Ich lese das Predigtwort aus dem 5. Buch Mose, Kapitel 7:

6 Denn du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind.

7 Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern –,

8 sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat der HERR euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten.

9 So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten,

10 und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen.

11 So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust.

12 Und wenn ihr diese Rechte hört und sie haltet und danach tut, so wird der HERR, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, wie er deinen Vätern geschworen hat.

Gott hat eine Schwäche für das Schwache. Israel, dieses kleinste der Völker hat es ihm angetan. Er hat es ausgewählt und macht es zu etwas Besonderem. Zu etwas Heiligem, Auserwähltem.

Gottes Leidenschaft, die Schwäche für das Schwache, durchzieht die ganze Bibel: David, der kleinste seiner Familie, wird zum größten König Israels auserwählt. Witwen und Waisen, Fremdlinge, Überschuldete und entrechtete Menschen werden von den Propheten verteidigt und groß gemacht. Jesus, selbst in kleinsten Verhältnissen aufgewachsen, stellt als Erwachsener Kinder in den Mittelpunkt und alle, die in irgendeiner Weise klein sind: Die nicht der Norm entsprechen, die krank sind oder belastet, die klein gemacht werden, die anders sind.

Sie kennen viele dieser Geschichten: Die Erzählung, wie Jesus Kinder segnet, wie er den blinden Bartimäus heilt, wie er die Ehebrecherin beschützt und viele andere. Immer und immer wieder macht sich Jesus stark für die Kleinen. Sie sind ihm heilig, besonders wichtig, hervorgehoben und erwählt. Für sie engagiert er sich. Befreit sie von Lasten und Zwängen wie Gott sein Volk aus der Knechtschaft in Ägypten befreit hat.

II.

Gott hat eine Schwäche für die Schwachen, die Kleinen. Diese Eigenschaft Gottes wird besonders deutlich, wenn kleine Kinder getauft werden. Noch ganz auf Erwachsene angewiesen, noch nicht entscheidungsfähig, entscheidet sich Gott für sie und macht sie heilig.

Im 1. Petrusbrief heißt es:

Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk.[1]

Die Taufe ist die Aufnahme in die Gemeinschaft der Heiligen. Heiligkeit traut Gott allen zu, die getauft sind. Welch ein Vertrauensvorschuss!

Gott erwählt, Gott heiligt. Heilig sind wir durch die Taufe, nicht aufgrund einer besonderen Leistung oder Frömmigkeit, nicht wegen einem unerschütterlichen Glauben. Heilig, weil Gott das Kleine, Schwache, liebt und mit ihm eine ganz besondere Beziehung eingeht. Gott setzt sich für sie ein, schützt und verteidigt sie.

So gewürdigt und geliebt, behütet, können die Kleinen groß werden. Sie können ihre Fähigkeiten entfalten und zur Geltung bringen, können erfolgreich sein und Größe zeigen. Eine Größe, die nicht auf Kosten der Schwachen groß ist, sondern aus der Beziehung mit Gott wächst. Heilig, von Gott auserwählt und groß gemacht, sind diejenigen, die sich in ihrer Ohnmacht und in ihrer Kraft mit Gott verbunden wissen. Heilig sind, die in Beziehung mit Gott stehen, die in Gottes Nähe bleiben, die Gott ihr Herz hinhalten so nah wie das Baby im Tragetuch am Mutterherz, am Vaterherz.

III.

Das Predigtwort formuliert:

Halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust. Das ist die Größe, die Gott seinen Erwählten, Heiligen, zutraut. Zu dieser Größe ermutigt Gott sein Volk und alle, die ihm heilig sind: Die kleinen und größeren Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die sich taufen lassen, die Konfirmandinnen und Konfirmanden, alle, die getauft sind. Sie und mich. Halte die Gebote und Gesetze und Rechte und lebe danach!

Also die 10 Gebote auswendig lernen, in der richtigen Reihenfolge aufsagen können und so gut wie möglich danach leben, dazu eine tägliche gute Tat? Nicht das kennzeichnet Heiligkeit. Die Größe der Heiligkeit, die von Gott her kommt, liegt im Kleinen, Verborgenen. Im Herzen: Gottes Gebote auswendig kennen, wie es das englische Wort sagt: By heart.

Mit jedem Herzschlag danach fragen, was Gottes Gebot heute ist, in diesem Augenblick. Fragen und hin spüren, was zu Gottes Barmherzigkeit passt und versuchen, danach zu leben.

Die Gesetze Gottes kennen, wie ein Baby versteht, das den Herzschlag der Mama spürt. Das macht die Ausstrahlung aus, die Gott denen zuspricht und zutraut, die zu seinem Volk gehören. Sie sind heilig in dem Sinn, wie Heilige einen Heiligenschein tragen als Hinweis auf eine besondere, wohltuende Ausstrahlung.

Die Taufe verändert: Heiligt und gibt Kraft und Mut zu einem Leben, wie Gott es will. Die Taufe ist einmalig und doch tägliche Bewährung. Deshalb gibt es im Lauf des Kirchenjahres Gelegenheiten zur Tauferinnerung. Sonntage wie heute.

IV.

Im Vorbeihetzen der Zeit laden solche Tage ein, stehenzubleiben. Hinzuschauen und Hinzuspüren und zu staunen über Gottes Barmherzigkeit und Liebe. Gottes Nähe und Weite spüren und sich hineinnehmen lassen. Lust bekommen, Gottes Gebote zu halten, sich an seinem Willen zu orientieren, an seiner Schwäche für die Schwachen.

Ich stelle mir vor, wie das wäre: Eine Welt, in der uns Gottes Schwäche für das Schwache heilig ist:

• Kinder und ihre Zukunft stehen im Mittelpunkt. Ihretwegen werden Gesetze neu gedacht, werden Erwachsene, die für Kinder Verantwortung übernehmen, unterstützt, Schulen mit Freiraum konzipiert, in der nicht nur der Verstand, sondern auch Phantasie und Soziales Lernen möglich ist.

• Hochbetagte werden geachtet, Seniorenwohnen und menschen-würdige Verhältnisse in Pflegeheimen, barrierefreier Wohn- und Städtebau sind selbstverständlich.

• Behinderte Kinder dürfen geboren werden und bereichern diese Welt.

• Psychisch oder körperlich kranke Menschen sind wie selbstverständlich dabei, müssen nicht mithalten, sondern dürfen ihr Tempo leben und ihre Möglichkeiten entfalten.

• Kindern, Frauen und Männern, die Schutz suchen, wird dieser gewährt, die Fremden finden Heimat.

• In einer Welt, in der uns Gottes Schwäche für das Schwache heilig ist, hat Umweltschutz oberste Priorität: In der Politik, in der Wissenschaft, in öffentlichen Einrichtungen, auch in Kirchengemeinden.

• Schöpfungsverantwortung wird ernst genommen, den Kleinen zuliebe: Den Kindern und all denen, die in den Ländern und Regionen leben, die für unsere Verschwendung mit Lebensqualität bezahlen.

• In den großen Konflikten der Welt, auch im Nahostkonflikt, ergeben sich überraschende, noch nie gedachte Perspektiven des Friedens.

Unsere Gemeinde als ein Ort, an dem Gottes Schwäche für das Schwache heilig ist. Wir leben das schon, an vielen Stellen: Wenn wir Kranke besuchen, Trauernde begleiten, Senioren Raum geben, Kindertagesstätten betreiben.

Wir sind ein Teil der Gemeinschaft der Heiligen. Wenn wir diesen Zuspruch und Anspruch ernst nehmen in allem, was gelingt und auch in Konflikten, dann werden wir das ausstrahlen. Gott erwählt die Kleinen – das wird uns Größe verleihen. Andere werden nicht vorbeihetzen, sie werden stehenbleiben. Sie werden genauer hinschauen und staunen.

Gott heiligt die Seinen. Da kann man nur staunen, danken und loben.

Amen.

 

Arno Mattejat

nach einer Vorlage von

Pfrin Dorthee Hermann

Hugo-Wolf-Str. 14, 80937 München

 

[1]              1Ptr 2,9

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